Aktuelle Wirtschaftskomödie

"Meinl, quit living on dreams!"
Elfriede Jelinek kommentiert in ihren Texten stets aktuelle Themen - mit ihrem Stück "Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie" ist ihr sogar ein Blick in die Zukunft gelungen. Der Text über Finanzkrise, Bankenpleiten und die betrogenen Kleinanleger entstand noch vor dem Lehman-Crash und der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise

Den Stoff lieferten zwei österreichische Finanzskandale: die Affären um BAWAG und Meinl Bank inklusive ihrer prominenten Protagonisten Julius Meinl, Karl-Heinz Grasser, Wolfgang Flöttl und Co. Die wenig später folgenden internationalen Ereignisse waren dann laut Regisseur Nicolas Stemann "in Wirklichkeit der Kommentar zu Jelineks Stück".

Spitzen gegen Finanzprominenz
"Die Kontrakte des Kaufmanns" wurde im März 2009 im Wiener Akademietheater "ur-gelesen" und im darauffolgenden Herbst am Thalia Theater Hamburg uraufgeführt. Das Stück wurde für jeden Aufführungsort erweitert und modifiziert und spart in der Wiener Fassung nicht mit Zitaten und Spitzen gegenüber der österreichischen Finanzprominenz.

Theater zum Saalverlassen
Eingangs erklärt Stemann die Spielregeln des Abends: Der Text sei 99 Seiten lang, wie lange das Stück dauern werde, sei nicht abzuschätzen, vermutlich aber ungefähr drei bis fünf Stunden - ohne Pause.

Das Publikum darf den Saal jederzeit verlassen, die Türen bleiben offen, und das Saallicht wird nur leicht gedimmt. Die Inszenierung wird ins Foyer übertragen, damit trotzdem niemand etwas versäumt.

Countdown zum Applaus
Eine Anzeigetafel auf der Bühne zählt zur Orientierung die bereits gelesenen und gespielten Seiten von 99 auf null, manchmal schneller, manchmal langsamer - und ab und zu auch rückwärts.

Stemann hat sich der Sprachmassen, der Flut an Sätzen, Wortspielen und Gedankensprüngen angenommen und sie in ein aktionistisches Theaterfeuerwerk verwandelt.

Gedroschene Phrasen
Voll von mehr oder weniger eindeutigen Anspielungen sind nicht nur die Texte, sondern auch die szenische Umsetzung, bei der Geld im wahrsten Sinne des Wortes gefressen und verbrannt wird. Die Phrasen plätschern dabei dahin und werden zeitweise auch ordentlich gedroschen.

Stemann bedient sich aus dem vollen Repertoire der Trickkiste. Er lässt seine Darsteller in einer Probenszenerie virtuos präzise Sprechchöre ebenso präsentieren wie Slapstick-, Zauber- und Musikeinlagen und unterlegt das Ganze mit Projektionen aktueller Zeitungsberichte und Livekameras.

Das Publikum wird mehrfach ins Geschehen eingebunden, indem es zum Mitsingen und -sprechen aufgefordert wird. Ein aus dem Zuschauerraum erbetener 100-Euro-Schein wird verbrannt statt im Zaubertrick verdoppelt - die perfekte Demonstration für die leeren Versprechungen der Banken.

"Schnelle theatrale Eingreiftruppe"
Auch der Regisseur selbst beweist sich als Schauspieler, Musiker und Sänger. Das Ensemble - die "Schnelle theatrale Eingreiftruppe" - begreift er als "Textumsetzungsmaschine", die sich mit dem Jelinek'schen Textteppich abarbeitet und dabei einen ebensolchen produziert: Die gelesenen Seiten des Manuskripts werden über die ganze Bühne verteilt und bedecken schließlich den Boden.

Keine Angst vor Redundanzen
Im Mittelteil zerfällt das Bühnengeschehen zur anarchistischen Performance, bei der die oft redundante Sprache zur Unterlage für ein fast quälend langes Furioso an Action-Painting und Bühnenchaos wird.

In dem Moment, in dem das Ganze auseinanderzubrechen und sich in Textredundanzen aufzulösen droht, fängt Stemann die Inszenierung mit einer Coverversion von Falcos "Jeanny" wieder auf ("Meinl, quit living on dreams") und führt sein Ensemble zu einem dichten und bilderstarken letzten Drittel.

Begeisterter Applaus nach 99 Seiten
Als am Premierenabend nach gut vier Stunden die Anzeigetafel von "01" auf "00" sprang, war der Saal nicht mehr ganz voll - viele hatten das Angebot der freien Pause angenommen und bis zum Stückende ausgedehnt. Doch der Applaus der Verbliebenen inklusive Standing Ovations und Jubelrufen fiel umso begeisterter aus.

Sophia Felbermair, ORF.at

Hinweis
"Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie" ist bei den Wiener Festwochen noch am Samstag und Sonntag zu sehen.

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