Kompromisslos und hart

Von der eigenen Familie gejagt: Der Fluch der "Mara Salvatrucha".
Mord, Drogenhandel, Raubüberfälle, Erpressung, Körperverletzung, Zeugeneinschüchterung, illegaler Waffenbesitz, Behinderung der Justiz: Die Liste der Verbrechen der "Mara Salvatrucha" ist lang.

Die von Immigranten aus El Salvador in Los Angeles gegründete Gang ist grenzüberschreitend in mittelamerikanischen Staaten und in Latino-Vierteln großer US-Städte aktiv. Regisseur Cary Joji Fukunaga hat einen viel beachteten Film gedreht, der vom Schicksal eines Gangmitglieds handelt und die Frage aufwirft, ob Moral verhandelbar ist.

Die einzige Familie
"Sin Nombre" kommt diese Woche in heimische Kinos und wird als Thriller verkauft, was die Erzählweise und den Rhythmus des Films jedoch nicht trifft. Eher erinnert er an brasilianische Cinema-Novo-Filme der späten 60er Jahre und das Favela-Epos "City of God" (2004).

In kräftigen Bildern zeigt Fukunaga ohne unnötige Kommentare das Leben der "Mareros", wie die Gangster genannt werden. Caspar, ein 18-jähriger Bandit im südlichen Mexiko, kennt keine andere Familie als die "Mara Salvatrucha", und deren Rituale bestimmen sein Leben.

Zum Abschuss freigegeben
Nur einen Verstoß erlaubt er sich gegen die Gesetze der Gang: eine Freundin von außerhalb. Als der Chef von Caspar enteckt, dass dieser sich aus seinem Viertel davonstiehlt, versucht er als Strafe, das Mädchen zu vergewaltigen, und tötet sie versehentlich bei einem Handgemenge.

Caspar nimmt Rache und erschlägt seinen Boss mit der Machete, als der versucht, eine weitere junge Frau - Sayra - zu missbrauchen. Von nun an ist er vogelfrei und weiß, dass die "Mara Salvatrucha" von Honduras bis Kalifornien nicht ruhen wird, ehe er von Kugeln durchlöchert ist. Ein Entrinnen scheint unmöglich.

Eine Jagd, eine Flucht
"Das Sterben ist mir egal. Ich wüsste nur gerne, wann es so weit ist", sagt er zu Sayra, die aus Honduras kommt und ebenfalls versucht, sich Richtung USA durchzuschlagen. Sie erhofft sich jenseits der Grenze ein besseres Leben, er versucht lediglich, seines zu retten.

"Sin Nombre" unterscheidet von einem klassischen Thriller, dass er ohne Überraschungselemente auskommt. Alles hier folgt einer zwingenden Logik. Caspar hat gegen Gesetze verstoßen, also wird er gejagt. Er will nicht sterben, also flüchtet er.

Die neue Moral
Dass Sayra sich ihm anschließt, ist die Folge einer bewussten Entscheidung von Caspar. Er kehrte der "Mara Salvatrucha" zwar aus persönlichen Gründen den Rücken zu, lief aber nicht bei der erstbesten Gelegenheit weg. Seinen Boss erschlug er erst, als dieser Sayra vergewaltigen wollte.

Eben war es für ihn entsprechend der Moral der "Mara Salvatrucha" noch kein Problem gewesen, jemanden zu töten. Als er sich der Ersatzfamilie aber nicht mehr verpflichtet fühlt, gelten neue Regeln, eine neue Moral kann greifen.

Das Versagen des Staates
Fukunaga gelingt das Kunststück, mit einfachen Mitteln und einer einfachen Story einen guten Teil der komplexen gesellschaftlichen Realität Mittelamerikas zu zeigen. Das Versagen des Staates als Ordnungmacht und die dauerhafte wirtschaftliche Misere, sie sind die Triebkraft hinter den Akteuren von "Sin Nombre".

Auf der Zugsreise sieht man - an Originalschauplätzen gedreht - Hunderte Flüchtlinge, die vor den Migrationsbehörden fliehen und Überfälle hinnehmen müssen. Gleichzeitig entspinnt sich zwischen Caspar und Sayra ganz behutsam eine Liebesgeschichte. Und die "Mara Salvatrucha" bleibt dem Abtrünnigen auf den Fersen.

"Vollkommen unwiderstehlich"
Beim Sundance-Festival wurde "Sin Nombre" mit dem Regiepreis und dem Preis für die beste Kamera ausgezeichnet. Die "Times" schrieb, dass der Film geradezu fordere, gesehen zu werden. Er sei ein Arthaus-Ereignis, "das kompromisslos ein hartes Thema mit vollkommen unwiderstehlicher Erzählkunst" verbindet.

Der Film wirkt lange nach, auch aufgrund des grandiosen Soundtracks, der mitunter durch positive Latino-Klänge das Geschehen auf der Leinwand konterkariert. Auch hier scheint die Botschaft zu lauten: Es ist ein harter Film, aber so ist eben das Leben.

Simon Hadler, ORF.at

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