Fiktionale Neurosen

Die Probleme der Filmcharaktere unterliegen keiner Schweigepflicht.
Unter dem Titel "Therapy Bites" beschäftigen sich Studierende an der Medizinischen Universität South Carolina seit Monaten mit den Problemen von Charakteren aus Film und Fernsehen. Wie das "Wall Street Journal" ("WSJ") berichtete, entpuppte sich die Analyse der Charaktere der "Twilight"-Saga als derart effektive Lehrmethode im Psychiatriestudium, so dass die Erkenntnisse über das Semesterfach vor der amerikanischen Psychiatriegesellschaft präsentiert wurden.

Kulturelles Umfeld berücksichtigt
In der "Twilight"-Fallstudie wurden biologische, psychologische und kulturelle Faktoren ebenso berücksichtigt wie das Umfeld der Charaktere und ihre Interaktionen.

Könnte Edwards wechselnde Augenfarbe ein Symptom der Wilson-Krankheit sein? Kann der Durst nach Blut durch die Essstörung Pica hervorgerufen werden, bei der man Gelüste nach an sich ungenießbaren Dingen entwickelt?

Vampir mit Stimmungsschwankungen
Die Studierenden stellten (wenig überraschend) fest, dass es sich bei Edward um einen Vampir handelt. Weil er geschätzte 100 Jahre alt ist - obwohl er aussieht, als wäre er 17 - ließen seine permanenten pubertären Stimmungsschwankungen darauf schließen, dass er in seiner Entwicklung vor rund 83 Jahren stehen geblieben ist.

Mangelndes Selbstbewusstsein und Opferbereitschaft machen seine Freundin Bella hingegen anfällig für eine gefährliche und selbstzerstörerische Beziehung. Vorgeschlagene Behandlung der Psychiater: Kognitive Verhaltenstherapie, um die negative Grundeinstellung in den Griff zu bekommen.

Fast so lehrreich wie Patientenkontakt
"Studierende der psychiatrischen und psychologischen Fachbereiche könne manchmal genauso viel von populären Filmen und Romanen lernen wie vom direkten Patientenkontakt", erklärte Glen Gabbard, Psychiatrieprofessor am College in Houston.

Er selbst hatte sich unter dem Titel "The Psychology of 'The Sopranos'" eingehend mit den dysfunktionalen Charakteren der Mafia-Serie beschäftigt. Für seine Studierenden organisiert der Professor monatlich Filmvorführungen mit anschließenden Analysesitzungen - zuletzt zu Filmen wie "The Hurt Locker" und "Precious".

Privatsphäre ist kein Problem
Der große Vorteil für die Lehre besteht darin, dass bei der Analyse fiktionaler Charaktere keine Schweigepflicht zu beachten ist und es keine Privatsphäre zu schützen gilt.

Auch wenn bei der Bearbeitung echter Fälle sämtliche Namen und Erkennungsmerkmale aus den Akten entfernt werden, bevor die Studierenden Einblick erhalten, müssen die Patienten ihr Einverständnis geben, bevor sie als Lehrfall in Betracht kommen.

Breites Spektrum an Störungen
Zusätzlich ergibt sich für die Studierenden ein weitaus breiteres Spektrum an zu analysierenden Störungen und Krankheiten, als sie im wahren Leben zu Gesicht bekommen würden.

"Solange man nicht als Gefängnispsychiater arbeitet, werden nur wenige von uns jemals einen wirklichen Soziopathen zu Gesicht bekommen oder eine wirklich schwerwiegend dissoziale Persönlichkeit wie Hannibal Lecter aus 'Das Schweigen der Lämmer'", betont John Rosegrant, Leiter der Psychoanalyse in Tucson.

Fiktionale Psyche "unrealistisch"
Kritiker argumentieren, dass die Studie der menschlichen Psyche anhand von fiktionalen Charakteren unrealistisch ist, weil die Charaktere nur so viele Dimensionen besitzen, wie der Autor ihnen zugesteht.

Die Verhaltensweisen dienen der Handlung der Geschichte und sind somit nicht mit einer psychisch motivierten Aktion zu vergleichen.

Auch reale Patienten können lügen
Befürworter führen ins Feld, dass auch wirkliche Patienten lügen und dem Therapeuten Dinge vorenthalten können.

Die Untersuchung der Motive und Antriebe fiktionaler Charaktere könne angehenden Psychologen und Psychiatern helfen, Erfahrungen, Kreativität und Selbstbewusstsein in der Diagnose zu sammeln.

Besserer Zugang zu Jugendlichen
Ein positiver Nebeneffekt des Programms: Studierende an der Universität von South Carolina erklärten, sie würden nach der Lektüre von "Twilight" einen viel besseren Zugang zu ihren jüngeren Patienten finden. "Speziell junge Mädchen identifizieren sich gerne mit Film- und Seriencharakteren wie Bella aus 'Twilight'."

Auch die Analyse von Filmen, in denen die Probleme und Störungen der Charaktere thematisiert werden, helfen den Psychiatern bei der Lehre. Die Auswertung von Behandlungsmethoden und -ideen hat sich als höchst aufschlussreich für die Studierenden erwiesen - wenn auch meist, um zu zeigen, wie man es nicht machen sollte.

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