Doch vor genau 20 Jahren, am 15. Jänner 1990, sollte auch diese letzte Bastion fallen. Aufgebrachte Bürger stürmten nach einer Demonstration mit 50.000 Menschen den Ort der Überwachung. Doch was zunächst wie ein Erfolg für die Demokratiebewegung aussah, erhielt bald einen fahlen Beigeschmack. Denn dass die Menschen überhaupt auf das Gelände kamen, könnte nur ein weiterer, wenn auch einer der letzten Schachzüge der DDR-Staatssicherheit gewesen sein.
Nicht gewaltsam eingedrungen
Das DDR-Innenministerium verbreitete am Tag danach die Meldung, die Demonstranten hätten das Tor gewaltsam geöffnet. Eine glatte Lüge, wie heute feststeht: Die schwere Stahlschiebetür hätte nicht einmal ein Panzer erschüttern können, geschweige denn unbewaffnete Zivilisten.
Historiker Christian Halbrock, ein Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörde, geht davon aus, dass Provokateure des Ministeriums für Staatssicherheit das Tor von innen selbst entriegelt hatten.
"Hierarchie funktionierte nicht mehr"
Walter Süß, damals Reporter und nun ebenfalls Wissenschaftler für die Stasi-Unterlagenbehörde, meint hingegen, dass die Hierarchien bereits gekippt gewesen sei. Die Stasi habe aber angewiesen, dass an dem Tag nur wenige Mitarbeiter Wache halten sollten.
Und während draußen noch die Massen demonstrierten, verhandelten in der Stasi-Zentrale bereits Bürgerkomitees aus den DDR-Bezirken über eine friedliche Übergabe. Ein Pfarrer habe einen Volkspolizisten angewiesen, das Tor zu öffnen.
Erfolgsreiches Ablenkungsmanöver
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©Bild: AP/Jockel Finck |
Sie schleusten sie zuerst in die Sozialräume und Speisesäle und verschafften damit ihren Kollegen Zeitgewinn zum Aktenvernichten in den heiklen Zonen des Komplexes.
Wut über Luxus
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Dennoch: Laut Halbrock verhielten sie sich gemäßigter, als es die Fotos und Filmberichte, die später zirkulierten, vermuten ließen. "Einiges an Zerstörung war passiert, bevor wir kamen", ist er sich sicher. So sollte die Bürgerbewegung diskreditiert werden.
US-Agenten mit dabei?
Es habe Indizien gegeben, dass damals auch westliche Geheimdienste unter den Demonstranten waren, sagt Süß. Karteien seien verschwunden. Auch die geheimnisumwitterten Rosenholz-Dateien über Westspione der DDR-Staatssicherheit waren in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes CIA gelangt - wann und wie, darüber wird bis heute gerätselt. Erst 2003 waren die mikroverfilmten Karteikarten an Deutschland zurückgegeben worden.
Aktenvernichtung bis zur letzten Minute
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©Bild: AP/Jockel Finck |
Die Reißwölfe verglühten buchstäblich, viele Akten wurden gewässert, zum Verbrennen gab es zu wenig Sauerstoff, so dass die meisten Dokumente händisch zerrissen wurden, bis die ersten Bürger auch in Haus 1 eintrafen.
Warnung vor Gewalt
Viele befürchteten, dass der Hass auf den Spitzelapparat in Gewalt endet: Radio und Fernsehen riefen zur Besonnenheit auf. Auch Ministerpräsident Hans Modrow eilte in die Normannenstraße.
Die Demonstranten verließen tatsächlich das Gebäude, die Eingänge wurden gesichert. Die Ostberliner Polizei schätzte es als Verdienst der Oppositionsgruppen ein, dass es keine Toten gab.
Keine Angst mehr
Der Sturm auf die Stasi-Zentrale habe den Untergang des DDR-Spitzelapparats besiegelt, sagt die frühere DDR-Bürgerrechtlerin und heutige Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde, Marianne Birthler. Bei den ersten Aktionen habe noch niemand gewusst, ob sich bewaffnete Stasi-Offiziere zur Wehr setzen würden.
Am 15. Jänner 1990 habe es dann nicht mehr ganz so viel Mut gebraucht. Die wichtigste Botschaft dieses Tages: "Die Bilder gingen um die Welt und zeigten, dass die Leute keine Angst mehr vor der Stasi haben." Es sei historisch und einmalig, dass einfache Bürger einen Geheimdienst zu Fall brachten und Akten retteten.
Erschreckender Datenwust
Der gefundene Datenwust ist noch heute erschreckend: Allein im Archiv der Zentralstelle lagern mehr als 17 Millionen Karteikarten. Zusätzlich liegen dort eine Million Fotos und 90.000 Film- und Videodokumente. Die Archive in Berlin und den Außenstellen beherbergen 120 Kilometer Schriftgut, 16,5 Kilometer zerrissene Akten und 41,7 Kilometer verfilmte Akten, das macht zusammen 180 Kilometer Papier.
Noch heute warten Tausende Säcke mit zerfetzten oder zerschnipselten Stasi-Unterlagen bei der Birthler-Behörde auf ihre Auswertung. Ein Teil des Materials wurde bereits in mühevoller Handarbeit rekonstruiert. Seit 2007 läuft ein Pilotprojekt zur elektronischen Rekonstruktion der Stasi-Papiere. Die Bundesbehörde geht davon aus, dass in den Säcken noch brisantes Material lagert.
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