Neun Kamele im Nadelöhr

"Schon der Puls in meinem Finger kann die Figuren zerstören."
Mit freiem Auge ist die Kunst von Willard Wigan gar nicht zu sehen. Der britische "Bildhauer" schnitzt mikroskopisch kleine Skulpturen, die locker in ein Nadelöhr oder auf den Kopf eines Nagels passen. In monatelanger Handarbeit stellt Wigan seine Miniaturfiguren und -szenen her, die mit 0,008 Millimeter nicht größer sind als ein menschliches Blutkörperchen.

Schneewittchen hat mit allen sieben Zwergen genauso in einem Nadelöhr Platz wie gleich neun Kamele, die US-Präsidentenfamilie Obama und das letzte Abendmahl. Den Astronauten Edwin "Buzz" Aldrin hat Wigan ebenso geschrumpft wie die Comicfigur Hulk, die Freiheitsstatue und Charlie Chaplin, der auf einer Wimper tanzt.

Fliegenhaar als Pinsel
Wigans Techniken sind so ungewöhnlich wie seine Kunstwerke selbst. Wie er im Interview mit dem "Magazin" der "Süddeutschen Zeitung" ("SZ") sagte, entstehen seine Figuren aus Teppichfasern, kleinen Teilen von Kabelbindern und Sandkörnern.

Geformt werden sie mit selbst hergestellten Meißeln aus Rubin- und Diamantsplittern und einem Mikroskalpell, bemalt werden sie mit einer Wimper, früher diente das Haar einer Fliege als Pinsel. Gearbeitet wird stets mit dem Mikroskop.

Arbeiten zwischen zwei Herzschlägen
Die Arbeit sei derart diffizil, dass er sich bei der Herstellung seiner Werke in einen meditativen Zustand versetzen müsse, so Wigan gegenüber der "SZ". "Schon der Puls in meinem Finger kann die Figuren zerstören." Um ein Zittern zu vermeiden, habe er also gelernt, nur zwischen zwei Herzschlägen zu arbeiten.

Auch die elektrostatische Aufladung seiner Hände stelle eine Gefahr dar. Er arbeite oft nachts, weil schon ein vorbeifahrendes Auto zu viel Erschütterung sein könne. Gefährlich seien auch die Vibrationen durch eine Musikanlage.

Kunstwerk eingeatmet
Wigan musste üben, auf jeden Atemzug zu achten. Dabei können auch skurrile Unfälle passieren: "Vor kurzem habe ich an einer Mikroskulptur von Alice im Wunderland gearbeitet und sie aus Versehen eingeatmet", berichtete der Künstler der "SZ". Es habe ihn Monate gekostet, sie wieder zum Leben zu erwecken.

Heute beschreibt Wigan das akribische Schnitzen, Formen und Bemalen selbst als nahezu unerträglichen Schmerz.

Wohnhäuser für Ameisen
Geboren wurde Wigan 1957 in Birmingham. Die Liebe zu den Miniaturen begann im Kindesalter, als er sich den Ameisen widmete und begann, den Insekten möblierte Wohnhäuser zu bauen. "Seit damals bin ich bessessen davon, winzige Dinge zu bauen."

Angespornt wurde Wigan immer wieder von seiner Mutter, die ihm sagte, wenn er es schaffe, die kleinsten Skulpturen der Welt zu schnitzen, werde sein Name umso größer werden. Der junge Wigan hatte schon früh begonnen, seinen Körper darauf zu trainieren, besonders ruhig und geduldig zu sein.

"Die Leute flippen aus"
Damals war kaum vorstellbar, dass er damit den Grundstein für eine unverwechselbare Karriere legen würde. 2007 erhielt Wigan von Prinz Charles einen Orden für seine künstlerischen Verdienste. Heute erzielen seine Miniaturen fünfstellige Preise und sind derzeit in der My Little Eye Gallery in London zu sehen.

"Die Leute flippen aus, wenn sie die Sachen sehen. Sie schreien: 'Das ist ja unglaublich!'", so Wigan.

Links: