Dass der 9. Oktober 1989 als Stichtag der friedlichen Revolution der DDR in die Geschichtsbücher eingehen konnte, ist auch der Zurückhaltung der Sowjetarmee zu verdanken, die in der DDR mit 365.000 eine bis an die Zähne bewaffnete Westgruppe unterhielt.
Dabei hielt mit General Boris Wassilijewitsch Snetkow der Oberbefehlshaber der in der DDR stationierten Sowjettruppen offenbar wenig davon, dass es Moskau im Gegensatz zum Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 vorzog, die Waffen schweigen zu lassen.
"An Gorbatschow vorbei"
Vielmehr soll der 62-Jährige der Führung der Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die Einsatzbereitschaft der erst im Sommer 1989 als Westgruppe der Truppen umbenannten sowjetischen Soldaten bekundet haben.
"Sozusagen an Gorbatschow vorbei" habe Snetkow der Ostberliner Parteiführung demnach angeboten, seine Panzer und Soldaten nach Leipzig zu schicken, wie laut dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) aus Tagebuchaufzeichnungen des Abteilungsleiters für Sicherheitsfragen im SED-Zentralkomitee, Wolfgang Herger, hervorgeht.
Einsatz im Innern im Stationierungsvertrag
Obwohl nicht "primäre Aufgabe" wird vom Deutschlandradio in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass ein Einsatz im Innern bereits im Stationierungsvertrag aus dem Jahr 1957 nicht explizit ausgeschlossen war.
"Im Falle der Bedrohung der Sicherheit der Sowjetischen Streitkräfte" könne das Oberkommando demnach "bei entsprechender Konsultation der Regierung der DDR" auch "Maßnahmen zur Beseitigung einer derartigen Bedrohung treffen".
Kein einziger Schuss gefallen
Dass letztlich vom 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 bis zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 kein einziger Schuss fiel, ist nach Ansicht von "Spiegel"-Reporter Hans Halter "das Basiswunder der Deutschen Einheit".
Dabei ging es nicht nur um die mögliche Niederschlagung einer Protestbewegung, auf dem Spiel stand angesichts der gewaltigen "Konzentration von Truppen und Waffen in der DDR" weit mehr: "Jeder Einsatz der Sowjetunion in dieser Situation verbot sich wegen des Risikos, die ganze Welt in Brand zu stecken", so Halter weiter.
"Gemeinsame Entscheidung"
Auch der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse sprach später von der Gefahr eines "Dritten Weltkriegs". Zudem wird Schewardnadse von Deutschlandradio damit zitiert, dass es "eine gemeinsame Entscheidung einer Mehrheit im Politbüro" gegen einen Militäreinsatz gegeben habe.
Auf einer abhörsicheren Leitung soll der Außerordentliche und Bevollmächtigte Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow, am Tag nach der ersten Montagsdemonstration Snetkow mit "Gehen Sie in sich und erstarren Sie" schließlich befohlen haben, "alle Militäreinheiten unverzüglich in ihre Kasernen zu schicken".
Eine Version, die etwa vom befehlshabenden Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee, Fritz Streletz, mit "Der hatte dem Snetkow gar nichts zu befehlen", allerdings offen angezweifelt wurde.
Russische Archive noch geschlossen
Wer und wann auf Sowjetseite den entscheidenden Befehl zur Nichteinmischung gab, gilt vielmehr bis heute als nicht eindeutig geklärt.
Grund dafür ist laut Deutschlandradio, dass die Rolle der sowjetischen Truppen in der DDR im Herbst 1989 - unter anderem wegen der bis 2019 geschlossenen russischen Militärarchive und fehlender Hinweise in den Unterlagen der DDR-Geheimdienstes (Stasi) - bis heute als wenig erforscht gilt.
Die Militärkarriere von General Snetkow erlebte jedenfalls nach dem Fall der Mauer ein jähes Ende, da dieser sich weigerte, den Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland in die Wege zu leiten.
Links:
- Westgruppe der Truppe (Wikipedia)
- Der Volksaufstand vom 9. Oktober 1989 (Deutsche Regierung)
- MDR-Artikel
- Deutschlandradio-Artikel
- "Spiegel"-Artikel