"Landschaften der Heimatlosigkeit"

"Sie schreibt völlig ehrlich, mit einer unglaublichen Intensität."
Die Buchmacher haben recht behalten: Herta Müller wird in diesem Jahr mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Das gab die Schwedische Akademie heute in Stockholm bekannt.

Müller beschreibe "mittels Verdichtung der Poesie und Sachlichkeit der Prosa Landschaften der Heimatlosigkeit", begründete Peter Englund, der Ständige Sekretär der Akademie, die Wahl.

"Hat wirklich eine Geschichte zu erzählen"
"Bei unserem Anruf war Herta Müller überglücklich. Sie ist ein Flüchtling aus ihrem eigenen Land. Das Vergangene ist für sie immer lebendig", sagte Englund weiter.

"Als ich ihre Bücher gelesen habe, hat mich das innerlich erschüttert. Sie schreibt völlig ehrlich, mit einer unglaublichen Intensität. Sie schreibt auch als jemand aus einer Minderheit, völlig ohne Rücksicht auf sich selbst. Sie hat wirklich eine Geschichte zu erzählen. Und sie hat die sprachlichen Möglichkeiten dazu."

"Kann es noch immer nicht glauben"
Müller reagierte am Donnerstagnachmittag in einer vom Hanser Verlag verbreiteten Stellungnahme auf die Zuerkennung: "Ich bin überrascht und kann es noch immer nicht glauben, mehr kann ich im Moment nicht dazu sagen."

Noch einen Tag vor der Bekanntgabe hatte sie sich gegenüber der dpa skeptisch über ihre Chancen geäußert. "Was sollte ich schon sagen zum Nobelpreis? Dass ich mich freue, ist doch klar. Natürlich wäre ich auch glücklich. Aber ich bin kein Star und mag auch nicht in die Öffentlichkeit gezerrt werden. Ich mache meine Arbeit wie gewohnt im Stillen weiter."

Seit 1987 in Berlin
Müller wurde 1953 im rumänischen Banat geboren und lebt seit 1987 als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie studierte Germanistik und rumänische Literatur an der Universität von Temesvar. Drei Jahre lang arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. Als sie sich weigerte, mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zusammenzuarbeiten, wurde sie entlassen.

Jahre als Hauslehrerin folgten. 1982 erschien ihr erstes Buch "Niederungen", in dem sie ihre Kindheit im Banat beschrieb. Das brachte ihr nicht nur konstante Demütigungen und Überwachung durch die Securitate, sondern auch die Missachtung der deutschen Landsmannschaften ein.

Müller ist Trägerin fast aller großen Literaturpreise im deutschsprachigen Raum. Ihr aktuelles Buch "Atemschaukel" gehört zu den sechs Finalisten für den Deutschen Buchpreis.

Köhler: "Glückliche Fügung"
Der deutsche Bundespräsident Horst Köhler gratulierte Müller in einem am Donnerstag in Berlin veröffentlichten Glückwunschschreiben. "Immer wieder haben Sie gegen das Vergessen angeschrieben und so an den hohen Wert der Freiheit erinnert, die niemals selbstverständlich ist", heißt es darin.

Deswegen sei es für ihn eine besonders glückliche Fügung, dass Müller die Auszeichnung gerade in diesem Jahr erhalte, "in dem wir an das Ende der Diktaturen in Osteuropa vor zwanzig Jahren erinnern".

Auch Merkel gratuliert
Auch die deutsche Bundeskanzlerin sprach in diesem Zusammenhang von einem "wunderbaren Signal". Das "hervorragende" Werk der Literatin sei aus einer Lebenserfahrung gespeist, "die von Diktatur, Unterdrückung, von Ängsten, aber auch von unglaublichem Mut spricht".

Die Kanzlerin fügte hinzu: "Wir freuen uns, dass sie eine Heimat in Deutschland gefunden hat, und ich gratuliere ihr von ganzem Herzen."

Präzise statt plakativ
Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Daniela Strigl sagte, Müller setze sich "seit Jahrzehnten auf eine ganz unverwechselbare, sehr poetische und sehr präzise Weise mit Themen auseinander, die eigentlich leicht dazu verführen könnten, plakativ zu sein".

Der prominenteste deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki lehnte gegenüber der dpa Kommentare zur Preisvergabe mit den Worten "Ich will nicht über die Herta Müller reden. Adieu" ab. Reich-Ranicki gilt als großer Fan des Dauerfavoriten Philip Roth.

Buchmacher lagen richtig
Beim Nobelpreis war Müller heuer erstmals in den Kreis der engsten Favoriten aufgerückt. In den Listen der Buchmacher rückte sie in den letzten Tagen immer mehr nach vorn.

Beim britischen Online-Wettbüro Ladbrokes wurde sie zuletzt gemeinsam mit dem Israeli Amos Oz als aussichtsreichste Kandidatin gehandelt. Ähnlich auffällige Quotenbewegungen zugunsten der späteren Sieger waren schon in den beiden vergangenen Jahren registriert worden.

Mit zehn Mio. Kronen dotiert
Der wichtigste Literaturpreis der Welt ist mit zehn Millionen schwedischen Kronen (rund 965.000 Euro) dotiert. Müller wird den Preis am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel, in Stockholm in Empfang nehmen.

Radiohinweis
Ö1 strahlt am Donnerstag im Rahmen der Reihe "Im Gespräch" (21.00 Uhr) ein Interview mit Müller aus, das kurz vor der Vergabe des Literaturnobelpreises entstand - mehr dazu in oe1.ORF.at.

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