Es sollte noch 18 weitere Jahre dauern, bis "Sex, Drugs and Rock 'n' Roll" durch einen Ian-Dury-Song zum Slogan wurde und es für Popstars zum guten Ton gehörte, sich als gequälte Seele auf des Messers Schneide zu gerieren. An das Original Billie Holiday kamen sie nie heran.
Keine Stimme, keine Show
Es war zu Beginn der 30er Jahre, als die 15-jährige Eleonora Fagan versuchte, sich in New Yorker Bars ein kleines Zubrot mit dem Singen der gerade populären Jazz-Songs zu verdienen. Ein paar Jahre Arbeit als Prostituierte lagen damals schon hinter ihr.
Eleonora wurde immer wieder abgewiesen. Sie hatte keine starke Stimme, stand wie in Trance auf der Bühne und verbreitete alles andere als gute Laune. Dazu kam noch der wenig glamouröse Name. Das war das Einzige, was sich je ändern sollte: Aus Eleonora wurde Billie Holiday.
Der Alptraum ein Leben
Die Geschichte der Namensfindung ist ebenso ungeklärt wie der Rest von Billie Holidays frühen Jahren. Ihre Autobiografie "Lady Sings The Blues" bietet dabei wenig Hilfe. Sie ist eher eine rauschhafte Jazz-Improvisation über den Alptraum, der ihr Leben war.
Während die "gefallenen Engel" der späteren Popmusik eher dem Typ bürgerlicher Kunststudent mit Lust auf ein wenig Revolte entsprachen, war Billie Holiday jedoch wirklich auf der Schattenseite des Lebens daheim: desolate Familienverhältnisse, Misshandlung, Armut.
Ein Vehikel für einen Jazz-Kreuzzug
Den Durchbruch verdankte sie gerade dem Umstand, dass das Leid anderer Leute offenbar immer interessant ist. Der einflussreiche Talentscout John Hammond hatte schon seit Jahren gepredigt, dass Jazz nicht Unterhaltung sei, sondern Kunst. In Billie Holiday fand er sein perfektes Vehikel.
Denn unterhaltsam war es unter Garantie nie, wenn Holiday sang. Sogar die zuckersüßesten Liebesballaden wurden zu erschütternden Minidramen, wenn sie den Mund aufmachte. Dazu kamen später jene Songs, mit denen sie für immer änderte, was Popmusik darf.
Zwar hatte es schon vor Billie Holiday schwarze Musik gegeben, die sich kein Blatt vor den Mund nahm. Blues-Königin Bessie Smith etwa sang bereits Jahre zuvor von Liebesbeziehungen in Worten, die heute noch jeden Gangsta-Rapper als Milchbuben dastehen lassen.
Aus kaputt wird faszinierend
Blues war jedoch "Race Music", die den Weißen egal war. Holidays Charisma brachte solche Töne aber in alle Jukeboxes: Aus einem kaputten Leben wurde, in Musik gegossen, faszinierende Unnahbarkeit, der sich niemand entziehen konnte - auch wenn sie über verwesende Leichen sang.
Und das tat sie: 1939 nahm Holiday, um ihr Leben fürchtend, "Strange Fruit" auf. Die "seltsame Frucht" an Bäumen im Süden der USA waren gelynchte Schwarze, deren Augenhöhlen von den Krähen leer gepickt sind. Das Lied wurde unter anderem als wichtigster Song des 20. Jahrhunderts prämiert.
Lieder wie Tagebucheinträge
Vor allem aber sang Holiday Lieder, die auch ihre Tagebucheinträge hätten sein können - über Männer, die einen ausnützen und betrügen; über die Unfähigkeit, je wirklich glücklich werden zu können. Bei Holiday bedeutete das auch einen ständigen Kampf gegen die Alkohol- und Drogensucht.
Ein wahrer "Junkie"
Zum Teil bewusst wurde sie von Einflüsterern und Arbeitgebern in der Drogensucht gehalten. So war die Sängerin, die in nüchternem Zustand genau wusste, was sie wollte, und das durchaus wortgewaltig durchsetzen konnte, ein leichtes Opfer und eine umso bequemere Einnahmequelle.
Während heute die Suchtprobleme von Künstlern als "Berufsrisiko" Mitleid verursachen, war Holiday für ihre Zeitgenossen ein "Junkie" im wahrsten Sinn des Wortes: "Müll", gegen den mit der vollen Härte des Gesetzes vorgegangen werden musste, bis in den Tod.
Polizisten am Sterbebett
Als Holiday im Mai 1959 ins Spital eingeliefert wurde, war sie ein Wrack: Ihren Lebenswandel bezahlte sie mit Leberzirrhose und Herzproblemen, ihre einst geschmeidig-katzenhafte Stimme war zu einem kehligen Scherbenhaufen geworden.
Vor und in ihrem Spitalszimmer waren Polizisten wegen der "Fluchtgefahr" der Sterbenden postiert. Fünf Tage vor ihrem Tod war sie wegen Drogenbesitzes offiziell verhaftet worden. Ihr Nachlass belief sich auf 70 Cent auf einem Konto und 750 Dollar in bar aus ungeklärter Herkunft.
Lang lebe die tote Königin
Sie konnte nicht mehr lesen, dass die Welt schon einen Tag nach ihrem Tod erkannte, dass "die ehrlichste Sängerin der Welt", die "einzige Sängerin, die wohl nicht singen wollte, aber aus ihrer Verzweiflung heraus nicht anders konnte", und die "wohl einflussreichste Sängerin der Welt" gestorben war.
Lukas Zimmer, ORF.at
Links:
- Billie Holiday (engl. Wikipedia)
- "NYT"-Nachruf vom 18.7.1959
- Strange Fruit (engl. Wikipedia)
- Billie Holiday singt "Fine and Mellow" (YouTube)