Rund 80 Millionen Menschen gehören weltweit zu der von Calvin begründeten reformierten Kirche - doch diese Gemeinschaften sind zersplittert und teilweise wissen sie wenig voneinander.
Späte Berufung zur Theologie
Calvin kam erst sehr spät zur Theologie. Geboren wurde er am 10. Juli 1509 in Noyon in der französischen Picardie. Er studierte Rechtswissenschaften in Orleans, Bourges und Paris.
Erst mit dem Tod seines Vaters, der als kirchlicher Verwalter tätig war und später gerade wegen Kalamitäten in dieser Funktion um jeden Preis verhindern wollte, dass der Sohn Theologe wird, wandte sich der junge Calvin den humanistischen Studien zu.
Zunächst schienen Seneca und die stoische Philosophie die Lehrmeister des Studenten. Zugleich kam Calvin wahrscheinlich in den Kontakt mit den Anhängern der Reformation. Wann er sich den Reformatoren letztlich anschloss, ist, wie so manch anderes Datum in der Biografie Calvins, nicht mehr auszumachen.
Flucht vor den Säuberungen unter Franz I.
Gewiss ist: Um 1533 musste Calvin vor der Protestantenverfolgung unter Franz I. aus Paris fliehen. In den folgenden Jahren wird man Calvin in Südwestfrankreich antreffen, aber auch in Basel und in Oberitalien.
Allerdings sollte Genf, damals hin- und hergerissen zwischen dem Einfluss des Hauses Savoyen und dem Geist der Reformation, der sich in der benachbarten Schweizer Konföderation ausbreitete, Calvins entscheidende Wirkungsstätte werden.
Bereiteter Boden
Vor der Ankunft Calvins in Genf hatte ein anderer Reformator erfolgreich gewirkt. Der um 20 Jahre ältere Guillaume Farel, wie Calvin aus Frankreich stammend, wie Calvin in Paris im Einfluss des damaligen Humanismus eines Erasmus von Rotterdam und Jacques Lefevre d'Etaples erzogen, war 1533 von Neuchatel nach Genf gekommen, um die Genfer Oberschicht vom Segen der Reformation zu überzeugen.
1535 hatte er die Genfer überredet, die Reformation anzunehmen. Am 8. August 1535 wurde in der Kathedrale von Genf zum letzten Mal ein katholischer Gottesdienst abgehalten, wenige Tage später die heilige Messe verboten.
1536 befand sich Calvin auf der Durchreise durch Genf - nur einen Tag hatte er bleiben wollen, doch Farel hielt Calvin fest und überredete ihn, seinen Aufenthalt in der Rhone-Stadt zu verlängern.
Zu strenge Gemeindeordnung für Genf
Calvin, der schon in seiner Zeit des Exils in Angouleme an seiner "Institutio Christianae Religionis" zu arbeiten begonnen hatte, brachte für Genf zunächst eine strenge Gemeindeordnung heraus. Doch schon zwei Jahre später wurde er mit Farel aus Genf vertrieben: Er hatte der Gemeinde die Ausgabe des letzten Abendmahls verweigert.
"Von der Packerei befreit"
Calvin ging nach Straßburg, wurde dort Professor für Theologie und begann seine Lehre weiter auszuformen, etwa seine Vorstellung von der Vorherbestimmung des Menschen. Zugleich heiratete er. Freilich, eine Frau sollte Calvin ermöglichen, seine Pflicht gegenüber Gott noch konsequenter wahrzunehmen, denn, so schrieb er: "Wenn ich eine Frau nehme, so wird es geschehen, damit ich, von mannigfachen Packereien besser befreit, mich dem Herren weihen kann."
1541 holte man Calvin nach Genf zurück. Der katholische Bischof Genfs wollte die Gemeinde zur Rückkehr zum katholischen Glauben überreden. Da der Stadtrat keine Antwort wusste, rief man Calvin zu Hilfe, der die Antwort an den Bischof verfasste. Genf räumte Calvin schließlich umfassende Vollmachten ein. Der Reformator sollte seine Kirchenordnung und Kirchenzucht umsetzen dürfen; der "Genfer Katechismus" entstand.
Hartes sittliches Regiment
Calvin setzte fortan die Reformation nach seinen Vorstellungen durch. Im Namen der Religion begründete er ein hartes sittliches Regiment. In etlichen Konflikten rang er mit dem politischen Rat der Stadt um Einfluss und Entscheidungsbefugnisse. Doch Calvin erhielt die Vollmachten, die er verlangt, etwa Rechte bei der Exkommunikation.
Calvin wollte Ordnung in der Kirche - und er suchte dabei nach wirksamen Instrumenten. Bespitzelung und Denunziation waren Teil seines Vorgehens. Mit allen Mittel sollte Streit unter den Gläubigen verhindert werden.
Der Konflikt mit Servet
In Genf führte Calvin Auseinandersetzungen mit andersgesinnten Theologen. Jene mit dem spanische Arzt, Freidenker und Antitrinitarier Michael Servet sollte seinen Ruf als Tyrann mit blutigen Händen befestigen. Servet befand sich mit Calvin in einem zunächst brieflichen Disput. Servet argumentierte gegen Calvins Lehre von der Erbsünde und gegen die Kindertaufe.
Später sollte er wegen seiner Glaubensauffassungen in Lyon verhaftet werden. Nach seiner Freilassung war Servet auf der Durchreise durch Genf, wurde erkannt und in der Stadt festgenommen. Was folgte, war ein Verfahren, bei dem Calvin seine Finger im Spiel hatte. Calvin habe durch Gutachten und die Weitergabe brisanter Informationen auf das Urteil und seine Vollstreckung hingewirkt, heißt es.
"Wichtig ist seiner besessenen Rechthaberei nur noch eines", schreibt Stefan Zweig ("Castellio gegen Calvin") über Calvin: "Aus dem Todgeweihten vor dem letzten Atemzug das Bekenntnis herauszupressen, dass Servet unrecht habe und er, Calvin, recht." Doch Servet gab Calvin auch am Todespfahl nicht recht und starb unter Qualen. Bilder wie dieses sollten die Ansichten über Calvin über Jahrhunderte bestimmen und die Rolle des Gelehrten und Reformators überlagern.
"Erkenntnis Gottes und Selbsterkenntnis"
Je stärker Calvin die Gesellschaft in Genf nach seinen Vorstellungen gestaltete, desto intensiver arbeitete er an seiner "Institutio Christianae Religionis" (Unterweisung in der christlichen Religion). Die Schrift, die bis 1559 auf 80 Kapitel anwuchs, gilt als eines der einflussreichsten theologischen Werke des Abendlandes. Zugleich belegt sein Werk, dass es an einer Zeitenschwelle angesiedelt ist, wo auch der Mensch in neuem Licht gesehen wird.
"All unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient", schreibt Calvin, "umfasst im Grunde zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis. (Der) Mensch (kann) auf keinen Fall sich wahrhaft selbst erkennen, wenn er nicht zuvor Gottes Angesicht geschaut hat." Noch im selben Jahrhundert wird der - im alten Glauben gebliebene - französische Nobelmann Michel de Montaigne diesen Blick in den Spiegel auf sich - und seine hinfällige menschliche Natur - umlenken.
Die doppelte Vorherbestimmung
Calvins Vorstellung einer doppelten Prädestination ruft bis heute oft Unverständnis hervor. Seine Lehre besagt, Gott habe den Menschen erwählt (als Konsequenz seiner Güte) und den Menschen zugleich verworfen (als Konsequenz seiner Gerechtigkeit). Im Grunde kann der Mensch diesen göttlichen Entschluss durch Verdienste nicht beeinflussen. Allerdings versuchen die reformierten Christen, ihre Erwählung aus vielen Aspekten ihres alltäglichen Lebens ablesen zu lassen.
Nicht zuletzt auch am Faktor Geld, und so arbeiten viele besessen an ihrem wirtschaftlichen Erfolg, der Beweis ihrer Erwählung sein soll. Für den Soziologen Max Weber trug diese von Calvin losgetretene Religionsauffassung, vereinfacht gesagt, den Kern des modernen Kapitalismus in sich.
Feine Unterschiede: Calvin und der Calvinismus
Freilich: Nicht immer wird unterschieden zwischen Calvins Lehre und dem von seinen Schülern verschärften orthodoxen Calvinismus, der von den Niederlanden aus bis nach Amerika seine Verbreitung fand.
Calvin selbst hatte bei der Prädestination vor allem die Gläubigen im Blick gehabt, die sich durch ihren Glauben als von Gott erwählt verstehen durften. Ihnen versicherte er, sie seien von vornherein und unwiderruflich erwählt - selbst dann, wenn sie Schuld auf sich laden sollten.
Die Vorstellung von der Verwerfung anderer Menschen war eine logische Konsequenz, vermuten viele Theologen. Denn Calvin sah immer auch Menschen, die nicht glaubten und folglich verworfen sein mussten.
Der Streit mit Luther
Ganz eigene Vorstellungen entwickelte Calvin auch beim Thema Abendmahl. Martin Luther lieferte er einen heftigen Disput. Für Luther war Christus am Tisch des Herrn in Leib und Blut gegenwärtig, für Calvin dagegen nur mittelbar im Heiligen Geist. Dieser Konflikt sollte die lutherischen und reformierten Kirchen jahrhundertelang spalten. Erst 1973 wurde diese Auseinandersetzung durch die Leuenberger Konkordie teilweise überwunden.
Das Ende eines geplagten Körpers
Von 1555 an verschlechterte sich der Gesundheitszustand des stets asketisch lebenden Calvin zusehends. Gegen Ende seines Lebens konnte er, von Gicht geplagt, das Bett nicht mehr ohne fremde Hilfe verlassen. Rücksicht nahm er auf seinen Gesundheitszustand kaum. Bis an die Grenze der körperlichen Selbstausbeutung arbeitete er bis zur letzten Minute. Am 27. Mai 1564 starb Calvin im Alter von 54 Jahren. Seine genaue Ruhestätte ist bis heute unbekannt: Calvin wurde in einem namenlosen Grab in Genf beigesetzt.
Experte: Calvin wirkt bis in die Gegenwart
Der Einfluss dieses "beinahe anorektischen" Mannes ist für den Würzburger Theologieprofessor und Schriftsteller Klaas Huizing, der gerade eine amüsante Calvin-Biografie vorgelegt hat, nicht zu unterschätzen. Calvins Gedanken würden bis in die kleinsten Gesten der modernen Gesellschaft hinein wirken, erinnert auch Huizing an die Verbindung von Glaube, Arbeitsfleiß und ausgestelltem Wohlstand.
"Wenn man früher in den Niederlanden oder Deutschland an einem Sonntag vor eine calvinistische Kirche gefahren ist, dachte man, man nehme an einem Autosalon teil", erinnert Huizing, selbst "gelernter holländischer Calvinist", an den Hang zur indirekten Selbstdarstellung der Calvinisten. Das habe etwas von "Investieren mit schlechtem Gewissen gehabt", so Huizing.
Immerhin wollte man ja nicht seinen Erfolg ausstellen, sondern Indizien vorlegen, dass man von Gott angenommen wurde. Unstrittig steht für Huizing fest, dass der Calvinismus für die moderne Gesellschaft deutlich wirkungsmächtiger geworden ist als der Lutherismus.
Das Primat des rastlosen Arbeitens und Strebens hielt auch der Wenigschläfer Calvin bis zu seinem Lebensende hoch: "Ich sehe mich als jemanden, der schüchtern, energielos und kleinmütig ist. Ich fresse meinen Schmerz in mich hinein, so dass ich in keiner Weise meine Arbeit unterbreche."
Gerald Heidegger, ORF.at
Buchhinweise
Klaas Huizing: Calvin ... und was vom Reformator übrig bleibt. Edition chrismon, Frankfurt 2009, 160 Seiten, 10,20 Euro.
Thomas Hennefeld und Peter Karner (Hg.): Johannes Calvin - Vom Katholikenschreck zum Mann der Ökumene. Ein Lesebuch zum 500. Geburtstag des Reformators. Verlag Der Apfel, 200 Seiten, 26,80 Euro.
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