Er ziehe sich zurück, um die Einheit des Parlaments zu wahren, verkündete der Schotte am Dienstag in London. Doch diese Einheit gab es zumindest im Hinblick auf Martin noch nie, schon immer waren die Meinungen über den 63-Jährigen gespalten.
Reform gezielt verschleppt
Seine Kritiker sprachen dem Schotten einfach den nötigen Intellekt für sein Amt ab. Seine Anhänger wiesen diese Vorwürfe als "versnobten Klassendünkel" zurück. Sie priesen dagegen, dass sich Martin von ganz unten auf einen der prestigeträchtigsten Posten Großbritanniens hochgearbeitet habe.
Dem seit dem Jahr 2000 als "Speaker" amtierenden Martin wird vor allem vorgeworfen, fällige Reformen im Spesensystem der Abgeordneten gezielt verschleppt und blockiert zu haben.
Misstrauensantrag drohte
Konkret kündigte Martin an, er werde am 21. Juni sein Amt abgeben. Abgeordnete aller drei großen Parteien im Unterhaus unterstützten einen von dem konservativen Hinterbänkler Douglas Carswell eingebrachten Misstrauensantrag gegen Martin.
Der frühere Labour-Politiker und Gewerkschafter kam durch die Ankündigung seines Rücktritts einem drohenden Misstrauensvotum zuvor.
Spesensumpf im Parlament
Politiker der regierenden Labour-Partei und der konservativen Opposition waren in jüngster Zeit wegen dubioser Spesenabrechnungen in die Kritik geraten.
Die Parlamentarier setzten unter anderem bereits abgezahlte Hypothekenzinsen, aber auch Ausgaben für Tennisplatzpflege und Hundefutter auf die Spesenrechnung oder machten unglaubwürdige Angaben zu ihren Wohnsitzen. Im Zusammenhang mit der Spesenaffäre müssen bereits mehrere Politiker ihre Ämter ruhen lassen.
Supermarktfahrten abgeschrieben
Der politische Höhenflug ging bei Michael Martin offenbar mit einem Verlust an Bodenhaftung einher. Schon vor der derzeitigen Spesenaffäre stand er in der Kritik, als Zeitungen im vergangenen Jahr über seine Abrechnungen an den Steuerzahler berichteten.
So soll Ehefrau Mary, mit der er zwei Kinder hat, mehr als 4.000 Pfund (gut 4.500 Euro) an Taxikosten für Fahrten zum Supermarkt geltend gemacht haben.
Erschütterung des politischen Systems
Mittlerweile erreichte der Skandal historische Dimensionen und könnte das jahrhundertelang bewährte politische System auf der Insel in ihren Grundfesten erschüttern.
Besonders angesichts der Wirtschaftskrise sind viele Briten über die Frivolität und Unverhohlenheit, mit der ihre Volksvertreter jahrelang Steuerbetrug begingen, besonders empört.
Browns Rettungsversuche
Labour-Premierminister Gordon Brown versucht unterdessen verzweifelt, den Skandal einzudämmen, um damit Labour und seine eigene Position abzusichern. Wie in den letzten Tagen bereits getan, kündigte Brown auch am Dienstag eine baldige Reform des Unterhauses an. Dieses könne künftig nicht mehr wie ein "Klub von Gentlemen" geführt werden, dessen Mitglieder die Regeln selbst festsetzen, sagte Brown am Dienstag.
Vielmehr müsse es ein "System der externen Kontrolle" geben. Nur so könne das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewonnen werden.
Bereits zuvor hatte Brown betont, dass bei der kommenden Parlamentswahl, die spätestens im Juni 2010 stattfinden muss, kein Abgeordneter mit unglaubwürdigen Spesenabrechnungen antreten dürfe.
Labour besonders getroffen
Laut einer Umfrage für die Zeitung "The Guardian" (Dienstag-Ausgabe) machen die Enthüllungen zur Spesenaffäre vor allem Labour, aber auch der konservativen Opposition zu schaffen.
Die Zustimmungswerte gingen demnach auf 39 Prozent für die Tories und auf 28 Prozent für die Labour Party zurück. 69 Prozent der Befragten sagten, Brown habe in der Affäre versagt. Dagegen stellten 55 Prozent dem konservativen Oppositionsführer David Cameron ein gutes Zeugnis aus.
1695 zuletzt der Fall
Seit mehr als 300 Jahren ist es das erste Mal, dass der Präsident des Unterhauses zum Rücktritt gezwungen wird. 1695 war der damalige "Speaker", John Trevor, wegen Korruption seines Amtes enthoben worden. Der seit 1377 bestehende Posten galt lange Zeit als hochriskant.
Vor 1560 wurden sieben "Speakers" enthauptet und einer ermordet. Die Tradition will es bis heute, dass der vom Unterhaus gewählte "Speaker" von seinen Anhängern symbolisch zu seinem Sessel "gezerrt" wird, weil es ihm angeblich widerstrebt, das Amt zu übernehmen.
Bis zur Pensionierung
Gewählt wird der "Speaker" nach Parlamentswahlen oder wenn sein Vorgänger den Posten räumt oder stirbt. Theoretisch kann er das Amt bis zu seiner Pensionierung oder seinem Tod ausüben. Martins Nachfolger soll am 22. Juni - erstmals in geheimer Wahl - bestimmt werden. Damit soll eine siebenstündige Marathonveranstaltung wie bei Martins Wahl im Jahr 2000 vermieden werden.
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