Die Unruhe hat La Reunion im Indischen Ozean ebenso erfasst wie Polynesien im Pazifik und Saint-Pierre vor der Küste Kanadas. Den Insulanern ist eines gemeinsam: Sie fühlen sich von Paris nicht genug beachtet. Es geht um die Identität. In dieser Atmosphäre stimmt Mayotte über seine Anbindung an Frankreich ab.
"Sklavenhalter" Frankreich
Die sich zuletzt überschlagenden Ereignisse haben im Mutterland und auf den Inseln alte Diskussionen über Kolonialismus, Autonomie und die Bindung an Frankreich neu entfacht. Auf der Zuckerrohrinsel Guadeloupe wettert der Führer der Streikbewegung LKP, Elie Domota, gegen eine "Wiedereinführung der Sklaverei" und fordert offen die Unabhängigkeit vom "Kolonialstaat".
Selbst Präsident Nicolas Sarkozy bringt die Frage der Autonomie ins Spiel - wohl wissend, dass nach Umfragen 80 Prozent der Guadelouper Franzosen bleiben wollen.
Misstrauen gegenüber Autonomieparolen
"Niemand ist dafür, weiter in Richtung Autonomie zu gehen", meint der Historiker Frederic Regent, ein Kritiker Domatas in der LKP.
Und der auf Guadeloupe tätige Philosophielehrer Jacky Dahomay sagte den "Dernieres Nouvelles d'Alsace", die Unterstützung der Bevölkerung für die Vorkämpfer der Unabhängigkeit habe sich "in Misstrauen verwandelt", als bei den Streiks deren "diktatorische Tonton-Macoute-Seite" sichtbar geworden sei. Die Tonton Macoutes waren im Staatsauftrag marodierende Mörderbanden auf Haiti.
Paris wehrt sich vor "zu viel Nähe"
Viele Insulaner wollen sogar eine noch engere Anbindung an den französischen Sozialstaat. So sollen die Bürger von Mayotte am 29. März in einer Volksabstimmung erklären, ob die 1841 von Frankreich gekaufte Insel zwischen Afrika und Madagaskar ein vollwertiges Departement (Landkreis) werden soll.
Dann hätten die Bürger wie in Paris oder auf Guadeloupe auch volles Anrecht auf alle Sozialleistungen; den Euro haben sie schon. Die Idee dazu kam von der Inselregierung. Paris bremst dagegen und möchte das Thema lieber erst einmal vertagen. Selbst als 101. Departement würden die Sozialgesetze über viele Jahre gestreckt auf Mayotte übertragen.
Komoren strecken Finger nach Mayotte aus
Wegen der Abstimmung auf Mayotte schlägt den Franzosen die Empörung der "Anti-Kolonialisten" entgegen. Die Afrikanische Union verurteilte das Referendum und erklärte, die Insel gehöre zu den Komoren. Mit Unterstützung Libyens und anderer Staaten fordern die Komoren den Abzug der "Kolonialisten" und den Anschluss der Insel.
Derweil strömen die Armutsflüchtlinge aus den Komoren nach Mayotte, wo der Lebensstandard zehnmal so hoch ist. Viele Frauen kommen, um ihre Kinder auf dem Fleckchen Frankreich zur Welt zu bringen: Sie stellen 80 Prozent der Geburten im Kreißsaal der Mayotte-Hauptstadt Mamoutzou. Pro Tag werden im Schnitt drei Kinder von Einwanderern ausgesetzt, damit sie als Waisen in Frankreich ein besseres Leben bekommen.
Bevormundung als gemeinsamer Nenner?
In der Karibik ist die Lage anders, aber nicht einfacher. "In den Antillen handelt es sich nicht nur um eine soziale Krise, sondern um eine Krise der Gesellschaft", sagt der Staatssekretär für die Überseegebiete, Yves Jego. Außerdem wirkt die Erinnerung an die Sklavenzeit nach.
"Wir wollen in Frankreich leben, aber als Volk existieren", erklärt der Bürgermeister von Fort-de-France auf Martinique, Serge Letechimi. Die Arbeitslosigkeit und soziale Ungleichheit seien enorm. "Die Kolonialgesellschaft ist zu einer Gesellschaft der Unterstützung geworden, die Sklaverei hat sich in Paternalismus verwandelt."
"Schweigegeld" aus Frankreich
Auch jetzt legt Paris wieder 848 Millionen Euro auf den Tisch, um die Sozialkonflikte in Übersee zu beenden. Der Unternehmerverband MEDEF wirft dem Staat allerdings vor, mit seinen Zugeständnissen auf Guadeloupe "gegen die Grundwerte der Französischen Republik" zu verstoßen.
Domatas LKP sei eine "sehr politisierte Linksorganisation, die für die Unabhängigkeit Guadeloupes kämpft" und "ein wahres Klima des Schreckens" erzeugt, sagt MEDEF-Chefin Laurence Parisot.
Und jetzt auch noch die Krise
Nach den Zugeständnissen des Staates sagt Parisot "reihenweise Insolvenzen" karibischer Unternehmen voraus. Dort leben schon jetzt vier von fünf Menschen als Beamte, Arbeitslose oder Empfänger von Sozialleistungen von Überweisungen des Staates. Die Wirtschaft droht damit weiter zu zerrütten.
Wer soll hier investieren, wenn "die Lohnkosten die höchsten der Region sind, die Arbeit jederzeit von bewaffneten Banden blockiert werden kann und jeder weiß, dass der Staat bei einem Sozialkonflikt eingreift, um die Löhne zu erhöhen und die Preise zu senken?", fragt der Kommentator Alexis Brezet.
Hans-Hermann Nikolei, dpa