"Kollateralschäden"
Nach 79 Tagen zog der damalige jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic seine Einheiten ab. Heute ist das Kosovo ein selbstständiger, aber alles andere als selbstverständlicher Staat. Der Einsatz der NATO-Truppen gilt weiter als umstritten. Ohne UNO-Mandat begonnen, forderte er massive "Kollateralschäden", wie die NATO das nannte.
Wie viele Zivilisten ums Leben kamen, ist umstritten, die serbischen Angaben variieren zwischen 500 und 2.500. Dass durch die Angriffe in Jugoslawien Infrastruktur im Wert von über 30 Milliarden Euro zerstört wurde, berechnete erst unlängst eine Expertenkommission. Nach dem Krieg wurde ein beträchtlicher Teil der serbischen Einwohnerschaft des Kosovo von der albanischen Mehrheit vertrieben.
Kein zweites Srebrenica
Die Staatengemeinschaft hatte sich auf Druck der USA nach zähem Ringen zu ihrem Eingreifen durchgerungen. In den Begründungen dominierte ein Wort: Srebrenica.
Ex-US-Präsident Bill Clinton sagte 2003 bei der Eröffnung einer Gedenkstätte, erst durch das Massaker im bosnischen Srebrenica im Juli 1995 mit bis zu 8.000 Toten habe es Unterstützung der NATO für die massive Bombardierung serbischer Stellungen gegeben.
Ein zweites Srebrenica durfte nicht passieren, schon gar nicht erneut unter den Augen der internationalen Gemeinschaft.
"Wo sind die Männer?"
Der damalige deutsche Kanzler Gerhard Schröder (SPD) erklärte angesichts der deutschen Beteiligung am NATO-Einsatz im Kosovo: "Wir können uns der Verantwortung nicht entziehen."
Sein Außenminister und grüner Koalitionspartner Joschka Fischer herrschte den Linkspolitiker und Gegner des Einsatzes, Gregor Gysi, an: "Wo sind die mehreren tausend Männer aus Srebrenica? In welchem Massengrab liegen sie? Wer trägt dafür die Verantwortung?"
Der Kampf um die Deutungsmacht
Die Beantwortung dieser Frage scheint von größter Bedeutung, wenn es gilt, die moralische Dimension der Balkankriege und insbesondere des NATO-Einsatzes im Kosovo zu fassen.
Srebrenica steht symbolisch für die Grausamkeit der Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien, aber auch für das Versagen der internationalen Gemeinschaft und der Berichterstattung über den Krieg und letztendlich für den Kampf um die Deutungsmacht seit Ende der Kampfhandlungen.
Müssen Opfer "gut" sein?
"Warum soll ein Opfer ein guter Mensch sein?" Diese Frage gibt Emir Suljagic als Antwort in seinem vielbeachteten, jetzt auch auf Deutsch erschienenen Buch "Srebrenica - Notizen aus der Hölle".
1975 als Bosniake geboren und mittlerweile studierter Politikwissenschaftler, Journalist und Autor, war Suljagic während der Zeit, als Srebrenica Enklave war, im Alter von 17, 18 und 19 Jahren in der Stadt eingeschlossen und arbeitete als Dolmetscher für die UNO.
Blick von innen
Sein Bericht, schrieb der "Guardian", werde maßgeblich in die Geschichtsschreibung über die Belagerung Srebrenicas und das Massaker an den Bosniaken einfließen. Es ist ein historisches Dokument, dessen Autor beredtes Zeugnis ablegt über Hunger, Angst, Gewalt, aufgrund seines Engagements aber auch Entscheidendes von den Vorgängen auf Führungsebene zu berichten weiß.
Die Enklave rund um Srebrenica war von bosnisch-serbischen Kräften unter der Führung von Ratko Mladic eingeschlossen worden und von 1992 bis 1993 umkämpft. Danach wurde sie zur UNO-Schutzzone erklärt, wobei es weiterhin zu Kampfhandlungen kam. 1995 nahmen die serbischen Kräfte die Stadt ein. Suljagic ist der erste Bosniake, der einen ausführlichen Augenzeugenbericht zu den Ereignissen vorlegt.
Männer unter dem Bett hervorgezerrt
Suljagic vermittelt den Eindruck, ein umfassendes Bild wiederzugeben. Er berichtet von Zwangsrekrutierungen in der Stadt durch die bosnische Armee - wenn man überhaupt von einer homogenen Armee sprechen könne. Mehrere regionale Warlords seien mehr oder weniger koordiniert unter der Führung von Kommandant Naser Oric mit Guerillaaktionen gegen die serbischen Belagerer vorgegangen.
In Lastwagen seien sie durch die Stadt gefahren, hätten Männer aller Altersgruppen, die sich versteckten, unter dem Bett hervorgezerrt und, obwohl sie allesamt unerfahren waren, als Kanonenfutter an die Front in den umliegenden Ortschaften geschickt.
Schadenfreude über serbische Opfer
Auch von einem Massaker der bosnischen Kämpfer in einer dieser Ortschaften berichtet Suljagic. Bosnisch-serbische Zivilisten seien hingemetztelt worden. Viele in Srebrenica, auch er selbst, hätten mit Schadenfreude reagiert.
Mafiöse Strukturen, UNO-Soldaten mit dabei
Oric, der militärische Führer und de facto Ortsvorsteher von Srebrenica, sei gleichzeitig Mafia-Boss gewesen. In seiner Hand lag demnach die Organisation des Schwarzmarkts, auf dem nicht zuletzt Hilfsgüter zu horrenden Preisen verkauft wurden.
UNO-Soldaten, vor allem jene aus den Niederlanden, aber auch Kanadier, hätten mitgemischt und von der Mangelökonomie in der Enklave profitiert.
Der tägliche Terror
Das Hauptaugenmerk legt Suljagic jedoch auf das Leiden der Bevölkerung unter der Besatzung. Täglich seien schwere Geschoße verschiedenen Kalibers auf die Stadt niedergegangen. Die Bewohner hätten sie bereits am spezifischen Pfeifen, wenn sie die Luft durchschnitten, unterscheiden können.
Nirgends sei man sicher gewesen. Er erklärt, wieso es nicht möglich war, den Detonationen und Granatsplittern zu entkommen - auch wenn man die Geschoße kommen sah. Er beschreibt, wie täglich Menschen von Heckenschützen erschossen wurden, wenn sie die Stadt auf ihrer verzweifelten Suche nach Nahrung Richtung Umland verließen.
Die Schuld des Überlebenden
Schließlich beschreibt er den Fall Srebrenicas und seine eigene Begegnung mit Mladic. Dieser habe zu einem UNO-Verhandler gesagt: "Ein Dreck bist du. Ich bin hier der Gott."
Das Leben des jungen Übersetzers Suljagic verschonte der Kriegsherr. Noch heute, mehr als zehn Jahre später, fühlt sich der Journalist auf diffuse Weise schuldig, weil seine Freunde und männlichen Verwandten getötet wurden, er selbst aber nicht.
8.000 Männer, getötet und verscharrt
Die UNO-Verwaltung habe noch geholfen, die jugendlichen Buben und Männer von den Frauen zu trennen - teilweise im Glauben, wenn sie über akribisch geführte Listen der Männer verfüge, würden es die bosnisch-serbischen Kräfte nicht wagen, diese zu töten. Die Männer wurden in Lagern angehalten und dann von Lastwagen der Armee abgeholt, um sie zu "evakuieren", wie es zunächst hieß.
Rund 8.000 wurden an abgelegen Orten erschossen, viele mit gefesselten Händen und verbundenen Augen. Ihre Leichen verscharrten die bosnisch-serbischen Soldaten in Massengräbern. Zur Vertuschung des Kriegsverbrechens wurden diese Massengräber später zum Teil verlegt.
Stadt wurde im Stich gelassen
Die NATO beschränkte sich darauf, während des Falls von Srebrenica Kampfjets über der Stadt kreisen zu lassen. Nur vereinzelt wurden Panzer der bosnisch-serbischen Kräfte beschossen.
Srebrenica wurde schließlich von den UNO-Soldaten kampflos der bosnisch-serbischen Armee überlassen. Oric hatte der Stadt schon Tage zuvor den Rücken gekehrt. Jene, die noch Widerstand gegen die Einnahme leisteten, standen auf verlorenem Posten.
Die Kosovo-Frage
Vier Jahre später stand die Staatengemeinschaft vor der Entscheidung, was im Kosovo zu tun sei, im Hinterkopf die zwiespältigen Erfahrungen aus dem Bosnien-Krieg: die Befreiung Sarajevos von der Belagerung mit Hilfe von NATO-Bomben und das Massaker von Srebrenica, bei dem die NATO nicht eingegriffen hatte.
Während der Kämpfe zwischen der albanischen Untergrundarmee UCK und der jugoslawische Armee waren Tausende Albaner aus dem Kosovo vertrieben worden oder geflohen, die meisten von ihnen nach Albanien. Die Gefahr einer "ethnischen Säuberung" stand im Raum.
Slobodan Milosevic hatte das Kosovo schon viele Jahre davor, zu Beginn seiner Machtübernahme in Jugoslawien, zur serbischen Grundsatzfrage erhoben. "Ich werde nicht zulassen, dass sie euch schlagen", sagte er vor TV-Kameras zu den kosovarischen Serben. Schützen wollte er sie gegen die albanische Mehrheit in der Provinz, die einen Status als eigene Teilrepublik anstrebte.
Milosevic entzog der Provinz die Autonomierechte. Der Grundstein für den Krieg war gelegt. Gekämpft wurde ab 1996, 1998 intensivierten sich die Gefechte.
Hohe Opferzahlen auf beiden Seiten
Als die UNO über Massaker an der albanischen Zivilbevölkerung mit bis zu 40 Toten berichtete, griff die NATO ein. Am 24. März 1999 begannen die Bombenangriffe. Die serbischen Truppen verstärkten ihre Aktivitäten, über Kriegsverbrechen wurde berichtet, bis zu 800.000 Albaner waren laut Rotem Kreuz zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht.
Während der Auseinandersetzungen zwischen der UCK und den serbischen Sicherheitskräften während der NATO-Operationen wurden dort zwischen 8.000 und 10.000 Albaner getötet, 3.500 gelten als vermisst.
946 Albaner konnten lebend in serbischen Gefängnissen gefunden und befreit werden. Die Zahl der getöteten Serben, Roma und "albanischen Verräter" wird auf 2.500, die der Vermissten auf 1.300 geschätzt.
Nach variierenden serbischen Angaben starben während der NATO-Luftschläge auf der eigenen Seite zwischen 271 und 1.000 Soldaten und Polizisten sowie mindestens 500 bis 2.500 Zivilisten. Etwa 10.000 Menschen wurden demnach verletzt.
Handkes "NATO-Krieg"
Am 10. Juni wurden die NATO-Luftangriffe eingestellt, weil Milosevic nach dem monatelangen intensiven Bombardement Jugoslawiens durch die internationalen Streitkräfte ein Friedensabkommen unterzeichnet hatte. 2008, neun Jahre später, rief das Kosovo seine Unabhängigkeit aus.
Kritiker der Angriffe wie der Schriftsteller Peter Handke sprechen bis heute vom "NATO-Krieg", wenn sie den Kosovo-Krieg meinen, auch wenn das nur die eine Hälfte der Wahrheit wiedergibt.
Zu Recht aber prangert Handke in seinem jüngsten Buch "Die Kuckucke von Velika Hoca" die Vertreibung von Kosovo-Serben, die tödlichen Angriffe auf sie bei "Unruhen" und die Zerstörung ihres Kulturguts seit der Machtübernahme der Albaner an.
Offene Frage
Unbeantwortet muss die Frage bleiben, was passiert wäre, wenn die NATO im Kosovo nicht eingegriffen hätte - und was passiert wäre, wenn sie in Srebrenica eingegriffen hätte. Eine einfache Schwarz-Weiß-Sicht der Balkan-Kriege ist nicht möglich, wie der Srebrenica-Bericht von Emir Suljagic eindrucksvoll zeigt.
Simon Hadler, ORF.at
Buchhinweise
Emir Suljagic: Srebrenica - Notizen aus der Hölle. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Zsolnay, 238 Seiten, 17,90 Euro.
Peter Handke: Die Kuckucke von Velika Hoca. Eine Nachschrift. Suhrkamp, 100 Seiten, 16,30 Euro.
Links:
- "Guardian"-Artikel
- Srebrenica - Notizen aus der Hölle (Zsolnay)
- Leseprobe aus "Srebrenica - Notizen aus der Hölle" (PDF, Zsolnay)
- Die Kuckucke von Velika Hoca (Suhrkamp)