Selbst der "New York Times" war am 4. Jänner 1931 die jüngste Exzentrizität von Filippo Tommaso Marinetti einen Bericht wert.
Fisch mit Trommelwirbel
Der italienische Autor und Künstler verstand sich auch als Feinschmecker, wenn auch nicht in herkömmlichem Sinne. Er entwickelte Speisen wie "Kolonialfisch mit Trommelwirbel", "Alaska-Lachs in Sonnenstrahlen mit Mars-Sauce" und "Kandierte atmosphärische Elektrizität", und er wetterte gegen die italienische Küchentradition.
Hatte Marinetti in dem am 20. Februar 1909 veröffentlichten "Futuristischen Manifest" noch "die Schönheit der Geschwindigkeit" zelebriert und sich gegen den "fanatischen, unverantwortlichen und snobistischen Kult der Vergangenheit" aufgelehnt, ging es rund 20 Jahre später der Nudel an den Kragen. Pasta stand laut den Futuristen für "Schlaffheit, Pessimismus, nostalgische Untätigkeit und Neutralismus".
Kulinarische Experimente
Die Ironie daran: Während der Futurismus in der Kunst mit Marinettis Tod und nicht zuletzt wegen seines Naheverhältnisses zum italienischen Faschismus an Relevanz verlor und heute in erster Linie als kunsthistorisches Studienobjekt interessant ist, sind viele Ideen der futuristischen Küche heute relevanter denn je.
Molekulargastronomen wie der baskische Superstar Ferran Adria und sein britischer Kollege Heston Blumenthal legen mit ihren kulinarischen Experimenten in der Laborküche alles daran, herkömmliche Essmuster und -erwartungen zu durchbrechen.
Die perfekte Mahlzeit
Genau das ist auch der Grundtenor des "Manifests der futuristischen Küche", das Marinetti im Spätsommer 1930 in einer Turiner Tageszeitung veröffentlichte.
Marinetti formulierte zwei Voraussetzungen für eine perfekte Mahlzeit: Originalität und Perfektion bei der Tischgestaltung - so empfahl er den Einsatz von Parfum am Tisch, um das Speisen noch sinnlicher zu gestalten - und "absolute Originalität" bei den Gerichten selbst.
Er trat für modellierte Speisen ein und forderte Fleischskulpturen, die in erster Linie die Augen und die Fantasie ansprechen sollten. Messer und Gabel wollte er komplett abschaffen.
"Die erste menschliche Küche"
Kurz nach der Veröffentlichung des Manifests wurde in Turin die "Gaststätte zum Heiligen Gaumen" eröffnet, das erste futuristische Restaurant - für Marinetti ein Ereignis in derselben Größenordnung wie die Entdeckung Amerikas, wie die "Welt" jüngst schrieb: "Bis jetzt haben sich die Menschen wie Ameisen, Mäuse, Katzen und Ochsen ernährt. Durch uns Futuristen entsteht die erste menschliche Küche."
Gestähltes Hendl
Die Speisekarte und ein 1932 erschienenes "Futuristisches Kochbuch" enthielten Gerichte wie das "Exaltierte Schwein", eine Salamischeibe, eingelegt in Espresso und verfeinert mit einem Spritzer Eau de Cologne. Als Hommage ans Automobil schuf Marinetti das "Huhn Fiat", das mit Stahlkugeln gefüllt und mit Schlagobers serviert werden sollte.
Am Rande einer Ausstellung in Paris lud man 1931 zum futuristischen Bankett, bei dem als Vorspeise etwa "eine schneeweiße Oblate, die Anchovis enthält", gereicht wurde, wie ein Besucher schrieb.
Adrias Manifest
Aus Adrias oder Blumenthals Laborküchen könnte das ebenso stammen wie das in Milch gekochte Kalbshirn, das Teil eines Gerichts namens "Meerestafel der befreiten Worte" sein sollte.
Adria verfasste vor einigen Jahren selbst ein Manifest. "Das Kochen ist eine Sprache, durch die man Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Humor, Provokation und Kultur ausdrücken kann", heißt es darin.
Pulver und Pillen
Marinetti hatte ein anderes Ziel: die völlige Loslösung der Nahrungsaufnahme von Speisen mit Form, Gewicht und Geruch. Die Chemie solle "dem Körper schnell die notwendigen Kalorien durch Nahrungsäquivalente zuführen, unentgeltlich vom Staat verteilt, in Pulver- oder Pillenform, die eiweißartige Stoffe, synthetische Fette und Vitamine enthalten".
Autark durch Reis
Wie stets beim Futurismus gab es Querverbindungen zum Faschismus Mussolinis. Gegen die verhasste Nudel sprach nämlich auch, dass zu ihrer Herstellung Weizen aus dem Ausland importiert werden musste, der "Duce" aber Italien in Zeiten der Weltwirtschaftskrise unabhängig vom Ausland machen wollte. Marinetti setzte daher auf Reis, dessen Verzehr die "dynamischen Pflichten der Rasse" gewährleisten sollte.
Die Mahlzeit der Engel
In Italien löste das "Manifest der futuristischen Küche" hitzige Debatten aus, besonders im Süden, wo man auf Marinettis Anti-Pasta-Kampagne mit Demonstrationen reagierte. Neapels Bürgermeister verteidigte in einem Interview die Teigwaren mit den Worten: "Die Engel im Paradies essen nichts außer Vermicelli al Pomodoro."
Marinetti kam das ganz recht. Er antwortete, das bestätige nur seinen lange gehegten Verdacht: dass es im Paradies reichlich monoton sein müsse.
Links:
- Futurismus (Wikipedia)
- Marinetti-Biografie (Wikipedia)
- Futuristisches Manifest (Kunstzitate.de)
- ElBulli (Ferran Adrias Restaurant)
- Die Welt