ORF.at: In "Yella" fährt ein Auto ins Wasser, in "Jerichow" fährt zu Beginn ein Auto fast ins Wasser. Erstes Indiz, dass hier bald alles "den Bach runtergeht"?
Christian Petzold: Nein, ich wollte, als der Range Rover von der Straße abkommt, weil der Fahrer, Ali, betrunken ist, dass das eher komödiantisch ist. Nicht ein Zeichen, hier geht's den Bach runter. Aber retrospektiv ist da schon was vorweggenommen. Es ist mir auch aufgefallen, in wie vielen Filmen, die ich in den letzten Jahren gemacht habe, Autos vom Weg abkommen, was entweder zu furchtbaren Unfällen oder zu komödiantischen Situationen führt, aber sie kommen immer vom Weg ab. Vielleicht ist das auch eine Metapher für das Kino: Man kommt vom Weg ab, und das Kino beginnt.
ORF.at: "Jerichow" spielt in einem gleichnamigen Ort in Sachsen-Anhalt. Ich hatte aber den Eindruck, der Film könnte auch woanders spielen. Der Ort bleibt anonym, wenn man von Bildern der Steilküste und rauschender Kiefern absieht. Wie wichtig ist Jerichow in "Jerichow"?
Petzold: Es wäre für mich sicher einfacher gewesen, wenn ich das in einen anderen Landstrich mit einer höheren Filmförderung versetzt hätte (lacht). Ich arbeite mit den Schauspielern im Vorfeld so viel, wir schauen so viel Filme an, reden so viel über den Stoff und fahren so viel an die Originalschauplätze, dass ich glaube, dass ich diese Welt dort nicht in dem Sinne filmen muss, dass ich ruinöse Industrieanlagen, wo es keine Jobs mehr gibt, zeige, einsame Straßen, durch die keiner mehr fährt, einsame Rasthöfe, an denen keiner mehr hält - also den Untergang einer Gegend, die keine Kaufkraft mehr hat. Das muss ich alles nicht mehr zeigen, wenn die Darsteller das in sich aufnehmen.
Ich mag kein Zeigekino. Ich mag ein Kino, wo die Lebensverhältnisse organisch sind und physisch und die Menschen nicht mehr Statthalter für Ideen sind. Ich glaube nicht, dass man diese Geschichte so im Ruhrgebiet erzählen könnte. Ich glaube, man spürt auch in den Figuren 1989, '90, den Zusammenbruch eines Gesellschaftssystems. Man spürt, dass die in die 90er Jahre der Bundesrepublik hineingeschmissen worden sind, wo die Lohnarbeit und der starke Staat gerade unter schwersten Beschuss gerieten und der Postfordismus auftauchte. Jeder sollte jetzt selbstständig sein und seines eigenen Glückes Schmied. Und diese Figuren in "Jerichow" haben als Schmied versagt. Es gibt nicht mehr die Lohnarbeit, sondern etwas anderes, Parasitäres, Ausbeuterisches.
ORF.at: Betrug spielt eine große Rolle im Film. Was tun die Figuren nicht alles, um ihren Platz in der Welt zu finden. Doch die kriminelle Energie geht nach hinten los.
Petzold: Es gibt so viele Baumärkte in Deutschland! Ich habe das Gefühl, sie tragen noch das alte Versprechen in sich: Du kannst dein eigenes Haus bauen. Das ist ja ein ganz regressiver Gedanke. Alles ist Vernetzung und global, aber im Privaten müssen wir unser eigenes Haus bauen, Zäune ziehen. Das ist eine Spannung, die eine neue Form von Geschichten hervorbringen muss. Und davon handelt ja der Film auch: "Heimat-Building". So wie ein Heimwerker sich ein Heim baut, wollen wir uns eine Heimat zusammenbauen. Also ein Haus, ein Grundstück, eine Frau - wie der Türke das macht -, ein Range Rover - er macht alles das, was man heutzutage von Menschen verlangt. Und trotzdem kriegt er keine Anerkennung, denn er wird nie ankommen! Die Tragödie, dass man noch so viel Geld in das Glück investiert, aber niemals die Entzauberung, die das Geld hervorgebracht hat, rückgängig machen kann, das ist die Tragödie, die in allen Figuren drinsteckt.
Die Frage nach dem Betrug: Ich finde, Nina Hoss hat das bei den Dreharbeiten ganz gut erklärt. Der Betrug, dass ich da ein bisschen Geld abzweige, dass der Imbissstuben-Besitzer ein bisschen Geld abzweigt, das passiert nicht, um sich zu bereichern. Sondern es ist das Letzte, was die Menschen noch von der vollkommenen Unterwürfigkeit trennt.
ORF.at: Weil sie so ein bisschen schlauer sind als der Nächste?
Petzold: Genau. Nicht der Nächste, der Chef! Es sind ja hierarchische Beziehungen. Der Türke ist ja ihr Chef. Wenn sie den beklaut, hat sie sich, ohne, dass er es weiß, einen Freiraum erwirtschaftet.
ORF.at: Wie kamen Sie auf Ihr Thema?
Petzold: Das fing damit an, dass wir uns bei "Yella" in der identischen Gegend in Sachsen-Anhalt aufgehalten haben - monatelang. Ich bin dann auch jemand, der ins Heimatmuseum geht, sich mit der Gegend beschäftigt, Napoleon, Stendhal - Stendhal, der sich ja danach benannt hat -, Tangermünde, die großen Brandkatastrophen, die Geschichte der DDR. Eine unheimlich reiche Gegend, diese Prignitz, wo die Menschen so amerikanisch sein wollen - nun kriegen sie auch eine amerikanische Geschichte (lacht). Das war der Grundgedanke.
Dann sah ich all die Vietnamesen, die dort leben und unter furchtbarstem Rassismus leiden müssen. Die waren ja Arbeiter, die noch von der DDR geholt worden sind aus Nordvietnam und dann 1990 alle abgeschoben werden sollten, weil Deutschland sich als neues Land bilden sollte. Immer, wenn sich Nationen bilden wie beim "Heimat-Building", geht's um irgendwelche anderen, die nicht mehr dazugehören sollen. Die haben sich dann Nischen gesucht und versucht, weiterzuexistieren mit einer ungeheuren Kreativität, die mich immer beeindruckt hat. So sah ich die vietnamesischen Imbisse und die türkischen Imbisse in Westberlin und dachte: Warum nicht ein Türke in der Prignitz?
ORF.at: Auf alles Überflüssige haben Sie in diesem Zusammenhang verzichtet. Zum Beispiel auf die unvermeidlichen Skinheads.
Petzold: Man muss das Gegenteil von Fernsehen machen, glaube ich. Das Fernsehen holt immer nur Leute in die Erzählung rein, die für irgendwas stehen. So dass dann jeder rückübersetzen kann, und zwar sehr einfach. Das ist dann fast digital: Ja, nein. Gut, böse. Skinhead, nicht Skinhead. Ausländer, nicht Ausländer. Das Kino macht so was nicht. Das Kino gibt keine Antworten, das Kino fragt. Und wenn es den Skinhead nicht zeigt, dann ist der überall. Und das ist viel interessanter.
ORF.at: Der Ton, das Sounddesign hat in Ihren Filmen immer einen hohen Stellenwert. Der Tiefflieger, der unsichtbar über die Landschaft donnert. Das vorbeirasende Auto, aus dem orientalische Musik wummert. Akustische Details werden fast schmerzhaft deutlich. Ist das eine Art Neu-Erziehung des Hörsinns, der durch zu viel Dolby Surround bombardiert und korrumpiert wurde?
Petzold: Ich war damals mit "Die innere Sicherheit" in Los Angeles auf einem Festival. Da ging ich durch die Straßen, wo gerade ein Hollywood-Film gedreht wurde. Eine 15 mal 20 Meter große Plexiglasscheibe wurde vor das Haus geschoben, in dem gedreht wurde. Ich dachte, was machen die denn da? Die schoben die Scheibe vor das Haus, damit sie Originalton drehen konnten und trotzdem durchs Fenster auf den Verkehr gucken.
Ich bin aufgewachsen mit synchronisierten amerikanischen Filmen, völlig ohne Ton. Die sogenannten IT-Bänder, die hintergrundgemischten internationalen Tonbänder, kamen erst sehr viel später. Bei uns war die ganze Tonspur gelöscht und nachsynchronisiert. Die hatten keinen akustischen Raum.
Ich habe das erst durch Godard-Filme erfahren - so heißt ja seine Firma: Bild und Ton -, dass man im Kino auch die Augen schließen kann und trotzdem im Kino ist! Da habe ich gelernt, dass man dem "Sound-Building" genauso viel Aufmerksamkeit geben sollte wie dem Bild. Man kann ja nicht einfach das Mikrofon in die Welt halten und die Welt reproduzieren. Die Welt ist ja, wenn wir hören, gefiltert. Wenn wir gucken, kadrieren wir ja auch. Deswegen dauert die Mischung bei uns verhältnismäßig lange, weil wir all diese Atmosphären, den Wald in der Nacht, eine Flussmündung, eine Tiefgarage, synthetisch entstehen lassen müssen. Die Arbeit, einen guten akustischen Raum zu machen, ist mühsam. Aber im Kino wird eine Totale erst dann schön, wenn sie ein akustischer Raum ist.
Das Gespräch führte Alexander Musik, ORF.at