Von monumental bis unterhaltsam

Die Sachbücher der Saison.
Der Stalin-Terror und das Privatleben
Das heimliche Sachbuch des Jahres ist wahrscheinlich "Die Flüsterer" des renommierten Russland-Experten Orlando Figes. Keine geschlossene Gesamtdarstellung hat bisher die Auswirkungen des Stalin-Regimes auf das Privat- und Familienleben der Menschen untersucht.

Auf Basis von Hunderten Interviews mit Zeitzeugen und zahllosen bisher unbekannten Dokumenten liefert Orlando Figes erstmals einen unmittelbaren Einblick in die Innenwelt gewöhnlicher Sowjetbürger und zeigt, wie Einzelne und Familien in einem von Misstrauen, Angst, Kompromissen und Verrat beherrschten Alltag um ihr Leben, ja Überleben kämpften. Figes hat eine besondere Form der Gesellschaftsgeschichte Russlands zwischen dem Revolutionsjahr und dem Ende der 50er Jahre geschrieben.

Figes, der sich exemplarisch das Leben bestimmter Familien über einen längeren Zeitraum anschaut, holt damit den Terror Stalins aus dem Abstrakten ins Konkrete.

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland. Berlin Verlag 2008, 928 Seiten, 35 Euro.

Monumentale Suche nach Proust
"Im Künstlerleben verkettet sich alles gemäß der unerbitterlichen Logik innerer Entwicklung." Dieser Satz aus Marcel Prousts "Carnet" von 1908 steht scheinbar programmatisch über einem monumentalen Werk, das viele begeistert, aber ebenso viele an dessen folgenreichen ersten Satz - "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen" - erinnert haben mag.

Wie sehr die "Recherche" mit dem wirklichen Leben Marcel Prousts verbunden war, haben viele Biografien zu ergründen versucht. Jean-Yves Tadie ist in seinem Monumentalwerk (knapp 1.300 Seiten) einen anderen Weg gegangen. Ihn interessierte die "Biografie eines Werks" - es ist der Gradmesser für die Aufarbeitung eines Lebens, das auf der äußeren Ereignisebene höhepunktarm war, dafür im Innenraum der Persönlichkeit des Schriftstellers um so mehr Raum für Konflikte offenließ. Tadie interessiert Prousts Leben, insofern es für das Werk relevant ist.

Einfache Parallelführungen zwischen dem realen und dem fiktionalen Ich bei Proust vermeidet er. In Frankreich gilt Tadies Werk seit zehn Jahren als Gradmesser der Proust-Biografik. Für die deutsche Übersetzung hat man sich sehr lange Zeit gelassen. Man wollte das Erscheinen der korrigierten Übersetzung der "Recherche" abwarten. Die Geduld hat sich gelohnt, kann man doch durch eine Art von Lebenswerk navigieren - und dabei die "Recherche", so man sie bis zum Ende durchgehalten hat, neu entdecken.

Jean-Yves Tadie. Marcel Proust. Suhrkamp Verlag, 1.298 Seiten, 70 Euro.

Theweleit outet sich als Hendrix-Fan
Einer Kultfigur der Rockgeschichte und einem der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts spüren Klaus Theweleit und Rainer Höltschl in ihrer Biografie "Jimi Hendrix" nach. Spätestens durch seinen frühen Tod im Alter von nur 27 Jahren war der begnadete Gitarrist, der in Armut aufgewachsen und im Swinging London der 1960er Jahre seinen Durchbruch erlebte, endgültig in den Starhimmel aufgestiegen.

"Für die nach 1940 Geborenen ist Hendrix ihr massivster Einschalter gewesen", konstatiert der Kulturwissenschaftler Theweleit - und meint damit wohl auch seine eigene Generation. Hier schreibt jemand an Fans für Fans - mag sein, dass die eher an Elektronik fokussierten Jungbobos was anfangen können mit Phrasierungen wie dem "gitarristisch-galileischem Existenzbeweis".
Klaus Theweleit, Rainer Höltschl: Jimi Hendrix. Eine Biographie. Rowohlt Berlin, 254 Seiten, 17,90 Euro.

Talentesuche in New Orleans
Seit seinem ersten Besuch im Jahr 1972 ist New Orleans für den irisch-stämmigen Musikjournalisten Nik Cohn zu einer Art zweiten Heimat geworden. Mit "Triksta. Leben, Tod und Rap in New Orleans" begibt sich der einstige Rebell des Popjournalismus auf Talentsuche unter jungen Rapmusikern in den ärmsten und schwärzesten Vierteln der Südstaatenmetropole.

Doch Cohns Buch ist nicht nur eine Reportage über eine selbst in den USA weitgehend unbekannte Hip-Hop-Szene. Mit Triksta bietet Cohn auch ein einzigartiges Porträt von "seinem" New Orleans, das allerdings nach dem Hurrikan Katrina so nicht mehr existiert.

Nik Cohn: Triksta. Leben, Tod und Rap in New Orleans, Hanser Verlag, 263 Seiten, 20,50 Euro.

Karl Kraus revisited
In "30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus" untersucht Richard Schuberth nicht nur Kraus' Positionen zu verschiedenen kultur- und gesellschaftspolitischen Themen. Er beleuchtet darin auch wenig Aufgearbeitetes wie dessen Verhältnis zu Sexualität, Eitelkeit, Bildung, Wissenschaft, Judentum und der Stadt Wien.

Schuberths Essays räumen mit vielen Mythen und Halbwahrheiten der Kraus-Rezeption auf und liefern ein eigenwilliges Porträt eines der wichtigsten Gestalten der Literatur- und Pressegeschichte. Zugleich lesen sie sich wie eine Streitschrift gegen die Unvernunft der Gegenwart.

Richard Schuberth: 30 Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus. Turia+Kant, 238 S., 24 Euro.

Die "aggressive Gekränktheit" einer Überlebenden
Ruth Klüger hat als Kind die Konzentrationslager der Nazis überlebt. Ihre Erinnerungen fasste sie im autobiografischen Band "Weiter leben" zusammen, das von der Stadt Wien heuer rund um die Buchmesse als Gratistitel aufgelegt wurde. Wer wissen will, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg weiterging, wie sie sich in den USA zur aufgeklärten Denkerin und Feministin entwickelte, erfährt das nun im Nachfolgewerk "Unterwegs verloren".

Das Buch bewegte die Rezensenten des Feuilletons durchwegs tief. Die "Neue Zürcher Zeitung" etwa nannte das Buch "lakonisch-trotzig" und ein "furioses Werk der Erinnerung". Die "Zeit" schreibt, es handle sich um die Erzählung einer "ebenso empfindsamen wie aggressiven politischen und menschlichen Kränkbarkeit" - "verfasst aus der Perspektive der doppelten Kränkung als Jüdin und als Frau im 20. Jahrhundert" (Perlentaucher).

Ruth Klüger: Unterwegs verloren. Zsolnay, 240 Seiten, 20,50 Euro.

Rückblick auf die Wahl 2008
Die Wahlen in Österreich sind geschlagen, die Koalition gebildet, die neue Regierung hat zu arbeiten: Jetzt ist Zeit, rückblickend zu reflektieren. Dafür bietet sich die von den Journalisten Thomas Hofer und Barbara Toth zusammengestellte Textsammlung "Wahl 2008. Strategien. Sieger. Sensationen" an.

Wahlkampfmanager, Experten und Journalisten analysieren den Wahlkampf abseits von tagesaktuellen Schnellschüssen. Dabei ergeben sich durchaus überraschende Erkenntnisse, die über die aktuelle Wahl hinausweisen.

Thomas Hofer und Barbara Toth: Wahl 2008. Strategien. Sieger. Sensationen. Molden, 189 Seiten, 19,95 Euro.

Ehetipps von Maria Theresia
Das Leben einer Kaiserin im Lichte ihrer privaten Briefe. Diese oft vergessene Seite von Maria Theresia beleuchtet der Kunst- und Kulturhistoriker Hannes Etzlstorfer in einer mehr als amüsant zu lesenden Biografie über die Kaiserin in einer Umbruchszeit.

Streng, mitunter behäbig, aber zugleich leutselig: So präsentiert sich die Kaiserin in ihren Briefen, die hier als "privat" deklariert werden - wobei natürlich zugleich die Frage aufkommt, ob irgendeine Handlung einer Herrscherin je privat sein kann. Wenn, dann ist es der hier gehobene Schatz an Selbstironie, der hinter das "offizielle" Bild einer Herrscherin blicken lässt. Vor allem bei den "Ehetipps" der Frau mit 16 Kindern liest man gerne nach.

Hannes Etzlstorfer: Maria Theresia. Kinder, Kirche und Korsett. Die privaten Seiten einer Herrscherin. Kremayr & Scheriau, 224 Seiten, 22,90 Euro.

"Das Buch des Jahres" - sagt der Autor
FM4- und Co.-Kabarettist (Projekt X) Clemens Haipl hat einen unterhaltsamen Band mit Kolumnen und Zeichnungen über Gott und die Welt herausgegeben, die zuvor im Magazin der Wiener Linien ("VOR") erschienen waren. Am besten lässt man ihn das Buch selbst (sic!) vorstellen (der Text findet sich auf dem Buchrücken):

"Wunderbar unterhaltsame Texte zwischen kindischer Verspieltheit und philosophischer Weisheit. Absurde Gedankenspiele reihen sich an scharfe Abrechnungen mit Pop und Medienkultur. Ich habe über die Cartoons gestaunt und das Buch in einem durchgelesen. Oft zauberte es mir ein Lächeln ins Gesicht, manchmal blieb mir das Lachen im Halse stecken. Durch und durch lesenswert und erfrischend anders. Das Buch des Jahres."

Clemens Haipl: Ich scheiss mich an. Echomedia, 214 Seiten.

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