Die Romane der Saison

Von A wie Appelfeld bis Z wie Zafon.
Die Buddenbrooks der DDR
Uwe Tellkamp sorgte mit seinem DDR-Bürgerdrama "Der Turm" nicht nur für den Kritikererfolg der Saison im deutschen Sprachraum (Deutscher Buchpreis), sondern auch für einen Topseller in den Buchhandlungen. In Thomas Mann'scher "Buddenbrooks"-Manier erzählt Tellkamp die Geschichte einer Großfamilie in der DDR.

Das Spannungsverhältnis zwischen realem Sozialismus und bürgerlicher Gesinnung ermöglicht einen gänzlich neuen Blick auf jene Arrangements, die Menschen in der DDR eingehen mussten - oder dennoch nicht eingegangen sind. Hier würde sich ein Geschenkspackage anbieten: Kinokarten für den neuen "Buddenbrooks"-Film und Tellkamps "Der Turm".

Uwe Tellkamp: Der Turm. Suhrkamp, 976 Seiten, 25,50 Euro.

Geräusche aus dem Nebenzimmer
Dem israelischen Schriftsteller Aharon Appelfeld ist mit "Blumen der Finsternis" ein außergewöhnlich berührender Roman gelungen. Erzählt wird von einem jüdischen Buben in der Bukowina, der den Nazis entkommen ist, weil ihn seine Mutter bei einer Prostituierten versteckte. In seinem kleinen Zimmer ohne Fenster bleiben Hugo nur Erinnerungen, die Fantasie und seltsame Geräusche aus dem Nebenzimmer.

Der Israeli Appelfeld wuchs selbst in der heute zur Ukraine gehörenden Bukowina auf, auch er musste als jüdisches Kind vor den Nazis fliehen, und auch ihm half eine Prostituierte. Dennoch, sagte er im Interview mit der "Zeit", sei das Buch nicht autobiografisch, enthalte aber die "Essenz" seiner Vergangenheit. Der Roman lässt den Leser sprachlos zurück.

Aharon Appelfeld: Blumen der Finsternis. Rowohlt, 317 Seiten, 20,50 Euro.

Ein finnisches Sittenbild
Der finnische Erfolgsautor Kjell Westö zeichnet mit seinem Roman "Wo wir einst gingen" ein episches Sittenbild Finnlands in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Bewohner von Helsinki erlebten rund um den Bürgerkrieg von 1918 chaotische, politisch radikalisierte Zeiten.

Westö folgt einigen von ihnen einfühlsam auf ihren Lebens- und Irrwegen, die einander kreuzen, vom tiefroten Angehörigen einer Arbeiterfamilie über ein faschistisches Bürgersöhnchen bis zur jungen Femme fatale. Nicht zuletzt als Buch mit dem vielleicht schönsten Cover der Saison eignet sich der ausladende Roman hervorragend als Weihnachtsgeschenk.

Kjell Westö: Wo wir einst gingen. Btb, 651 Seiten, 20,60 Euro.

Die Menschheit vor ihrer Auslöschung
Dietmar Dath gilt als einer der umstrittensten deutschen Autoren: Schreibt er gute Literatur oder nur Gefasel? Die Kritiker sind sich uneins. Daths jüngstes Buch "Die Abschaffung der Arten" - eine Anspielung auf Charles Darwin - ist ein Science-Fiction-Roman mit dem Schwerpunkt auf spekulative Science. Das Buch wurde sogar für den Deutschen Buchpreis nominiert - unterlag aber Uwe Tellkamps "Der Turm".

Dath erspinnt in dem Roman eine zukünftige Welt, in der genetisch veränderte Tiere - die Gente - die Macht an sich gerissen haben. Die Menschheit steht vor der Auslöschung. Doch auch die Gente haben mit allerlei Problemen und gegen ihre "Abschaffung" zu kämpfen. Dath führt in seinem dreigeteilten Roman aus, warum Gesellschaften scheitern und gar das große Aus droht.

Durchzogen von wissenschaftlichem und wissenschaftstheoretischem Material gelingt Dath eine Fabel über den Zustand "der Gesellschaft" im globalen Zeitalter der Wissenschaft und die darin liegenden Gefahren.

Dietmar Dath: Die Abschaffung der Arten. Suhrkamp Verlag, 552 Seiten, 25,50 Euro.

Die Leiden eines Dschungelkriegers
Denis Johnson gilt als einer der wichtigsten Gegenwartsautoren in den USA - und hat das mit seinem jüngsten Roman "Ein gerader Rauch" eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die irrlichternde Romanhandlung erstreckt sich über knapp 900 Seiten, folgt keinem zwingenden Handlungsverlauf und fesselt den Leser dennoch.

Ein junger CIA-Agent gerät in die Wirren des Vietnamkrieges und muss sich nicht nur gegen die Widersacher auf der anderen Seite der Frontlinie, sondern auch gegen seinen Vorgesetzten und Onkel durchsetzen. Nicht zuletzt durch die pointierten und teils absurden Dialoge wird ein tiefenscharfes, dunkles Bild des Dschungelkrieges entworfen, das gleichzeitig eine Abrechnung mit der US-Außenpolitik darstellt.

Denis Johnson: Ein gerader Rauch. Rowohlt, 880 Seiten, 25,60 Euro.

Historische Mutter-Sohn-Geschichte
Nach und nach erscheinen in der Deutschen Verlags-Anstalt (DVA) die Übersetzungen des US-Ausnahmeautors Richard Yates. Zeit seines Lebens war dem ruppigen Einzelgänger wenig Ruhm vergönnt. Erst seit wenigen Jahren gilt er als Autor, der den spezifischen Duktus der US-Literatur (von Philip Roth bis John Updike) mitprägte.

Nach dem großen Erfolg von "Elf Arten der Einsamkeit", "Zeiten des Aufruhrs" und "Easterparade" liegt nun mit "Eine besondere Vorsehung" ein weiteres Meisterwerk von Yates postum vor, in dem er eine erfolglose Künstlerin mit ihrem Sohn durch die Staaten der 30er und 40er Jahre tingeln lässt und gleichzeitig den Zweiten Weltkrieg aus der Sicht eines jungen US-Soldaten erzählt.

Yates vollbringt das Kunststück, den Ton seiner Zeit zu treffen und dennoch bis heute aktuell zu klingen.

Richard Yates: Eine besondere Vorsehung. DVA, 390 Seiten, 20,60 Euro.

Mystik-Fantasy mit Anspruch
Ein programmierter Verkaufsschlager der Vorweihnachtssaison ist Carlos Ruiz Zafons "Das Spiel des Engels", dessen Vorgänggerroman "Der Schatten des Windes" bereits mehrere Millionen Mal über die Ladentische ging. "Mystische Historienfantasy mit Anspruch" ist der Spagat, den der spanische Autor versucht.

Sein Romanheld ist ein talentierter junger Schriftsteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem der entscheidende Durchbruch als Literat nicht gelingen will, und der schließlich faustisch einen Pakt mit dem Bösen eingeht. Der unterhaltsame, wenn auch mäßig originelle Roman, bietet sich an, gemeinsam mit der Taschenbuchausgabe von "Der Schatten des Windes" verschenkt zu werden.

Carlos Ruiz Zafon: Das Spiel des Engels. S. Fischer, 711 Seiten, 25,70 Euro.

Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes. Suhrkamp, 562 Seiten, 10,20 Euro.

Super-GAU im Supermarkt
Den größten heimische Kritikererfolg lieferte im heurigen Bücherherbst Olga Flor mit "Kollateralschaden". Die "Neue Zürcher Zeitung" beschied der 1968 geborenen Autorin, sie sei dabei, "sich mit großem Können in die erste Reihe der österreichischen Literatur zu schreiben".

In einer zeitlich minutiös abgestimmten Collage beschreibt Flor einen Nachmittag im Supermarkt aus der Sicht seiner Besucher, wobei sich die Ereignisse verdichten und auf die unweigerliche Katastrophe zusteuern. Gefolgt wird den inneren Monologen einer rechten Politikerin, eines Obdachlosen, eines Jugendlichen und einiger anderer, wobei Flor ohne die üblichen Stereotype auskommt.

Olga Flor: Kollateralschaden. Zsolnay, 207 Seiten, 18,40 Euro.

Prekariat, Teil I
Die 1971 in Graz geborene Autorin Angelika Reitzer wurde bereits für ihren Roman "Taghelle Gegend" hoch gelobt und erzielte nun mit "Frauen in Vasen" noch größere Wirkung. Die "Zeit" schrieb online von "Prosa mit halluzinogener Wirkung", die Literaturkritikerin Daniela Strigl nannte Reitzer im Falter zu Recht "eine der meistbeachteten jungen Autorinnen des Landes".

Reitzer beschreibt in ihrem Buch das vieldiskutierte "Prekariat" junger gebildeter Menschen zwischen Jobsicherheit und freiberuflicher Selbstausbeutung sowie zwischen solider Zweisamkeit und chaotischeren Beziehungsmustern. Gekonnt entzieht sich Reitzer den Schubladen: Für Popliteratur ist das zu poetisch, für eine lyrische Erzählung zu wenig angestrengt.

Angelika Reitzer: Frauen in Vasen. Haymon, 140 Seiten, 17,90 Euro.

Prekariat, Teil II
Mit "Freischnorcheln" hat die 1975 geborene Hip-Hopperin und Lyrikerin Mieze Medusa (Doris Mitterbacher) ihr spritziges Romandebüt vorgelegt. Eine exzentrische junge Grafikerin, die dem "Donauweib" huldigt, wagt den Ausbruch aus ihrem Freelancer-Schicksal und WG-Leben.

Sexspielzeug, ein etwas schmieriger Werbefuzzi, Surfer in Portugal und die Straßen von Wien bilden die Ingredienzen der (wahn)witzigen Erzählung. Im Klappentext wird die Zielgruppe von "Freischnorcheln" treffend umrissen: "Ein Roman für alle, die noch nicht so ganz erwachsen sind, es lange Zeit nicht waren oder niemals werden wollen!"

Mieze Medusa: Freischnorcheln. Milena, 162 Seiten, 15,90 Euro.

Diesem Manne untertan?
Marlene Streeruwitz bleibt ihrem markanten, abgehackten, brutal-präzisen Stil treu - allerdings wechselt sie in "Kreuzungen" die Perspektive. Diesmal wird aus dem Blickwinkel eines Mannes erzählt, eines Milliardärs, der glaubt, sich die Welt untertan gemacht zu haben, insbesondere die Frauen.

Streeruwitz dekonstruiert diese Illusion wie gewohnt gnadenlos. Es scheint nicht unwahrscheinlich zu sein, dass Lesern in hundert Jahren, wenn sie wissen wollen, wie die Österreicher um die Jahrtausendwende tickten, zuerst Streeruwitz' Bücher empfohlen werden.

Marlene Streeruwitz, Kreuzungen. S. Fischer, 251 Seiten, 19,50 Euro.

Paul Austers finstere Fantasiewelten
Nachdem Paul Auster durch den mäßigen Erfolg seiner letzten Romane fast schon in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohte, ist er mit seinem jüngsten Roman "Mann im Dunkel" plötzlich wieder da, versteht zu fesseln, zu erzählen und erlaubt sich keine einzige Zeile Banalität.

Ein alter, ans Bett gefesselter Literaturkritiker flüchtet sich in finstere Fantasiewelten aus Krieg und Zerstörung, die aktuelle Bezüge zur US-Politik aufweisen. Die Übergänge zu seinem realen Leben und zur Literaturkritik verschwimmen mitunter. Was sich nach mühevoller Lektüre anhört, kommt dennoch leicht daher.

Paul Auster: Mann im Dunkel. Rowohlt, 220 Seiten, 18,40 Euro.

Proseminar gone wild
Wenn kultur-, gender- und wissenschaftstheoretische Abhandlungen einander mit zwischenmenschlichen und seelischen Komplikationen abwechseln, kann nur einer zugeschlagen haben: Thomas Meinecke. Diesmal, sein neuer Roman heißt "Jungfrau", kommt noch Religion an zentraler Stelle dazu.

Die Story: Ein Wissenschaftler, der den Frauen bis dato nicht abhold war, legt nun aus religiösen Gründen ein Zölibatsgelübde ab, was wiederum bei den Frauen in seiner Umgebung, sagen wir, Verwunderung auslöst. Dazwischen gibt es, in die Handlung eingewoben, eine Art pointierte Best-of-Wikipedia-Sammlung an wissenschaftlichen Texten, wobei sorgfältig recherchiert wurde und die Themen deutlich abseitiger sind als bei durchschnittlichen Wikipedia-Artikeln.

Thomas Meinecke: Jungfrau. Suhrkamp, 347 Seiten, 346 Seiten, 20,40 Euro.

Regener "Lehmann" vorlesen lassen
Element-of-Crime-Sänger und Autor Sven Regener hat seine 80er-Jahre-Trilogie rund um Frank Lehmann komplettiert, wobei "Der kleine Bruder" chronologisch zwischen den beiden ersten Bänden steht. Frank will nach seinem Abgang von der Bundeswehr zu seinem Bruder Manni nach Berlin ziehen, doch der ist nicht da - und nirgends zu finden.

Die folgenden drei Tage wird er anstelle seines Bruders an WG-Krisensitzungen, Künstlertreffen und Besäufnissen in der alternativen Szene des damaligen Berlin teilnehmen und am Ende wie immer über den Dingen gestanden sein. "Lehmann"-Fans werden auch "Der kleine Bruder" lieben.

Noch besser als das Buch verschenkt man die von Regener selbst eingelesene CD-Box. Seine Lesungen sind legendär, nur er selbst kann das authentische Gefühl von damals wirklich vermitteln.

Sven Regener: Der kleine Bruder. 281 Seiten, 20,60 Euro.

Sven Regener: Der kleine Bruder. tacheles!/RoofMusic, fünf CDs, 24,95 Euro (deutscher Preis).

Die befremdlichste Sexszene
Die mit Abstand befremdlichste Sexszene (nicht nur dieser Saison) geht auf das Konto des Salzburger Antiquars und Literaten Max Blaeulich. Auch er hat mit "Stackler oder Die Maschinerie der Nacht" eine historische Trilogie vollendet (womit die Analogie zu Regener auch schon wieder endet).

Der illegale Nazi und Rassentheoretiker Stackler entwirft einen Plan zur Ausmerzung alles Undeutschen. Während er mit seiner Assistentin schläft, geilen sich die beiden mit dem Referieren von Rassehygienetheorien auf. Blaeulich überspitzt und verdichtet Historisches, wie schon in den ersten beiden Bänden, satirisch und doch todernst.

Max Blaeulich: Stackler oder Die Maschinerie der Nacht. Residenz, 330 Seiten, 22 Euro.

Nastrovje!
Jewgenij Grischkowez ist zwar nicht der einzige Autor der ehemaligen Sowjetregion, der eine sauftechnische Tour-de-Force zum Inhalt eines Romans macht (man denke an Jurij Andruchowytsch und Wenedikt Jerofejew), er aber schrieb sein mit vier Jahren Verspätung nun auf Deutsch erschienenes Buch "Das Hemd" unter den Vorzeichen eines neuen bohemienhaften, mittelständischen Moskautums.

Ein junger Architekt erhält zur Unzeit Besuch vom Land. Der alte Freund will unbedingt "In-Lokale" kennenlernen, um Promis zu treffen. Der Romanheld aber ist krank vor Liebeskummer und wird auch noch vom Ex seiner Eigentlich-noch-gar-nicht-Freundin verfolgt. Dabei kann nichts Gutes herauskommen - außer ein hochkomischer, rasanter Roman, der nichts und niemanden in der jungen Moskauer Szene verschont.

Jewgenij Grischkowez: Das Hemd. Ammann, 272 Seiten, 20,50 Euro.

Erinnerungen an eine versunkene Welt
Der US-französische Autor Julien Green setzte 1942 dem Naziterror in Europa die behutsame Geschichte seiner glücklichen Kindheit in Paris nach der Jahrhundertwende entgegen. Seine These: Die Nazis mögen über Frankreich herrschen, aber das, was die französische Nation ausmacht, können sie nicht "ausmerzen".

Nun ist erstmals eine deutsche Übersetzung von "Erinnerungen an glückliche Tage" erschienen. Unaufgeregt und unaufdringlich humorvoll schildert Green den Alltag in der Familie und das Festhalten am Amerikanischen in der Fremde (sie hatten die geschmacklosesten Möbel ganz Frankreichs). In seiner Beschreibung der düsteren Zeit während des Ersten Weltkriegs kommt Green ohne Larmoyanz aus. Hier darf man mit Recht urteilen: ein schönes Buch (mit einem schönen Cover).

Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage. Hanser, 269 Seiten, 20,50 Euro.

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