Die Stimme der Vögel

Der Einzug der Vögel in die zeitgenössische Musik.
Ob Vögel singen oder bloß zwitschern, ist eine müßige Frage. Dass das Pfeifen, Trillern und Gezwitscher aber die Basis für grandiose Musik des 20. Jahrhunderts darstellen kann, hat ein Pionier der Avantgarde gezeigt: Olivier Messiaen.

Dem vor 100 Jahren geborenen französischen Komponisten gelang ein völliger Neuanfang, indem er für seine Kompositionen auf Vogelstimmen und -rufe und damit auf ein Vokabular zurückgriff, das aus der Natur kam und frei von jedem historischen Bezug war.

Unmittelbarkeit und Originalität
Jeder Vogel hat sein eigenes Timbre, sein eigenes Tempo, sein ganz individuelles Soundprofil. Messiaen erschien nichts avantgardistischer. Hier fand er Unmittelbarkeit, absolute Originalität und ganz neuartige Rhythmus- und Klangwirkungen.

Der Vogelwelt entlehnte Messiaen das Konzept der offenen Form bzw. der Einführung des Zufallsprinzips in den harmonischen und melodischen Ablauf. "Wie in der freien Natur, wo wir den Vögeln lauschen und nicht wissen, welcher von ihnen wann und wie lange, wo und in welcher Entfernung singen wird, sind wir aufgefordert, in einem offenen Klangraum das Unerwartete zu erleben", so der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard.

Messiaens Visitenkarte
Messiaen, der sich auf seiner Visitenkarte als "Ornithologen" bezeichnete, hütete ein Tonarchiv mit mehr als 100.000 Vogellauten aus aller Welt, die er systematisch und verblüffend genau transkribierte. Denn Messiaen sah in den Vögeln nicht nur wissenschaftliche Studienobjekte, sondern auch Symbole der Transzendenz, sie sind gleichsam die Stimmen Gottes.

Ein Musikkritiker konstatierte: "Der heilige Franziskus sprach zu den Vögeln, Messiaen hörte ihnen zu." Ornithologisches Interesse und Religiosität sind die zwei Pole, zwischen denen sich Messians Oeuvre bewegt. Ähnlich wie Anton Bruckner war er geprägt vom katholischen Glauben und verstand sich als "Musikant Gottes". Enstprechend groß ist die Anzahl sakraler Stücke, die Messiaen hinterließ.

Rhythmische Experimente
Auch im Rhythmus beschritt Messiaen einen radikalen Weg und organisierte ihn auf revolutionäre Weise neu, indem er ihn vom gleichmäßig klopfenden Taktschema emanzipierte.

Die Inspiration dazu kam genauso aus der Vogelwelt wie aus der Zahlenmystik und der Antike, aus der indischen Klangwelt und der Musik Igor Strawinskys. Oft arbeitete Messiaen auch mit den Primzahlen 5, 7, 11 und 13.

Was Arnold Schönberg in der Neuformulierung der Gesetze der Tonhöhenordnung für die Musik des vergangenen Jahrhunderts leistete, leistete Messiaen in der Formulierung eines "neuen Begriffs von der Zeit" in der Musik - mit weitreichenden Folgen bis heute.

Bruch mit der Vergangenheit
Dank seiner Experimente mit Vogelstimmen gelangen Messiaen Tonschöpfungen und -erfindungen, die vom vollständigen Bruch mit der Vergangenheit bestimmt waren und die Hörgewohnheiten auf eine harte Probe stellten.

Er mache Musik für Leute, die es nicht verstünden, den Vögeln zu lauschen, klagte er einmal. Ebenso unempfänglich seien sie für seine Religiosität und Musik: "Ich spreche vor Ungläubigen vom Glauben, über Vögel vor Leuten, die sie nicht mögen, von Rhythmen und Klangfarben vor Tauben und Blinden."

Erst in den 60er Jahren wandelte sich das Bild: Messiaen wurde nun international als eine zentrale Figur der zeitgenössischen Musik erkannt, gewürdigt und gefeiert. 1992 starb er in Paris. Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und Ö1 widmen ihm zu seinem 100. Geburtstag einen Schwerpunkt, bei EMI Classics ist eine 14-teilige CD-Box erschienen.

Armin Sattler, ORF.at

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