Wissenschaftler als Systemkritiker

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Ein Blatt vor den Mund hat er sich nie genommen: Die USA seien eher ein Schurkenstaat als der Iran und Nordkorea, die Bezeichnung "Extremist" für US-Präsident George W. Bush halte er "fast schon für ein Understatement".

Mit solch deftigen Aussagen kritisiert Noam Chomsky seit Jahrzehnten die USA. Dass er trotzdem als einer der wichtigsten Intellektuellen des Landes gesehen wird, hat vor allem einen Grund: Seine Theorie der "Generativen Transformationsgrammatik" gilt nicht nur in der Linguistik als wissenschaftlicher Meilenstein.

Am Sonntag feiert Chomsky seinen 80. Geburtstag. Und ein Ende seiner flammenden Anklagen ist nicht in Sicht.

Revolution in der Sprachwissenschaft
An seinem wissenschaftlichen Rang gibt es trotz vieler Kritiker und Konkurrenten wenig Zweifel. Chomsky revolutionierte die Linguistik vor allem mit der noch immer umstrittenen Theorie, dass jeder Mensch eine angeborene Sprachfähigkeit - als eine Art Programm - habe. Demnach wäre Sprache weit weniger vom kulturellen Umfeld wie der Familie und Volksgruppe geprägt, sondern vorgegeben.

Seine Erkenntnisse wurden von Fachleuten als "kopernikanische Wende" für die Linguistik beschrieben. Chomskys "Generative Transformationsgrammatik" wurde nach den Gesetzen der Mathematik und der Logik geschaffen und besteht aus einem komplizierten Formelwerk von Kürzeln und Gleichungen.

Lehrstuhl mit 32 Jahren
Der Sohn eines aus der Ukraine eingewanderten jüdischen Hebräischlehrers strebt immer noch eine "Universalgrammatik" an, in der die Strukturformen aller existierenden Einzelsprachen enthalten sind.

Chomsky wurde am 7. Dezember 1928 in Philadelphia geboren. Er studierte Sprachwissenschaft, Mathematik und Philosophie in Philadelphia, wechselte danach an die Harvard University und legte 1955 seine Doktorprüfung an der University of Pennsylvania ab. Nach seiner Promotion lehrte er am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und bekam dort 1961 im Alter von nur 32 Jahren einen Lehrstuhl für Sprachwissenschaften.

Erbitterter Gegner des "US-Imperialismus"
1964 begann Chomsky sich politisch zu artikulieren, damals gegen den Vietnam-Krieg - und später gegen praktische jede außenpolitische Entscheidung der USA: Der mächtigste Staat der Welt schrecke vor nichts zurück, um seine Dominanz zu festigen, zuletzt etwa im Irak, so seine These.

Für Aufsehen sorgte auch seine Meinung zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001: Diese seien eine unvermeidliche Antwort der "Dritten Welt" auf die Ausbeutung und Unterdrückung durch die USA gewesen. Auch mit seinen kritischen Aussagen zu Israel eckte er immer wieder an.

Keine Obama-Euphorie
Und als ewiger Skeptiker ist er auch nach dem Wahlsieg von Barack Obama nicht euphorisch: Gefreut habe er sich schon, allzu viel erwarte er sich aber nicht: "Abgesehen von seinen rhetorischen Schnörkeln präsentiert sich Obama mehr oder weniger als Demokrat der Mitte, vergleichbar mit dem Modell Clinton."

"Antidemokratische Natur" des Kapitalismus
Immer wieder greift Chomsky auch die Macht der Konzerne an und wurde damit zu einem Vorreiter der Globalisierungskritiker und einer der wenigen Galionsfiguren der Linken in den USA.

In der derzeitigen Finanzkrise sieht er die "antidemokratische Natur" des Kapitalismus entlarvt. Die Wirtschaftsexperten der vergangenen US-Regierungen für die Bekämpfung der Krise einzusetzen wäre, als ob man Osama bin Laden den Auftrag gäbe, den Kampf gegen den Terror anzuführen, so Chomsky vor wenigen Wochen bei einem Vortrag.

Die Medien im Visier
Auch die Medien hatte Chomsky immer wieder im Visier: Nicht unbedingt bewusst, sondern vor allem aus ökonomischen Zwängen würden sie die Interessen der Oberschicht konsensfähig machen und nur den Schein der demokratischen Meinungsbildung wahren.

Sein gemeinsam mit dem Ökonomen Edward S. Herman entwickeltes "Propagandamodell" demonstrierte er vor allem am Beispiel Osttimors. Über den Völkermord durch die - den USA freundlich gesinnten - indonesischen Truppen ab Ende der 70er Jahre berichteten die US-Medien praktisch nichts. Über die zeitgleiche Schreckensherrschaft der kommunistischen Roten Khmer in Kambodscha wurde hingegen ausführlich berichtet.

Nur noch Plattitüden?
Bis zuletzt hat Chomsky auch nicht aufgehört, seine Kampfschriften verfassen. Mehr als 70 Bücher sind es bisher, dazu kommen weit über 1.000 Artikel. Bei einem solchen Publikationstempo muss Chomsky mittlerweile auch von politisch freundlich Gesinnten Kritik einstecken: Schwarz-Weiß-Malerei würde er betreiben, vielfach Plattitüden bis hin zu Verschwörungstheorien verbreiten. Und wirklich neu und überraschend seien mittlerweile die wenigsten seiner Argumente.

Doch an Kritik ist Chomsky gewöhnt, als Wissenschaftler und als Agitator. Für den meisten Wirbel sorgte seine Verteidigung des französischen Holocaust-Leugner Robert Faurisson. Obwohl er dessen Meinung nicht im Geringsten teile, sei er für seine Redefreiheit eingetreten, rechtfertigte sich Chomsky. Dennoch: Seine weiße Weste als moralische Instanz hatte damals einige Flecken abbekommen.

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