Proust am Bosporus

Pamuks "Museum der Unschuld" - oder die Frage, wie Erinnerungen an das Glück wiederherstellbar sind.
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk ist ein vielbeschäftigter Mann. Seit er 2006 den Nobelpreis erhielt, erwartet man von ihm Dauerkommentare zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung der Türkei.

Für Verleger und Leser sind die Ansprüche seit dem Welterfolg von "Schnee" ebenfalls klar: neue Bücher. Und der Autor selbst? Er stellte sich gegenüber dieser Interessenlage noch einem zusätzlichen Projekt: In seinem Istanbuler Wohnbezirk Beyoglu baut Pamuk gerade an seinem "Museum der Unschuld" und führt Journalisten in den Rohbau eines Hauses, in dem das Museum entstehen soll.

Gestalt angenommen hat das Haus schon in fiktiver Form. "Das Museum der Unschuld" ist der Titel von Pamuks neuem Roman, der letztlich auch eine Art Programmatik für sein Museum ist. Gegenstände des Alltags sollen darin der Ausgangspunkt einer Erinnerungsreise sein. Diese führt zu persönlichen Geschichten ebenso wie zu einem großen kulturellen und gesellschaftlichen Tableau. Und an diesem Tableau arbeitet Pamuk seit Jahrzehnten ohne Unterlass.

Kemal und Füsün
In "Museum der Unschuld" ist es die unglückliche Liebesgeschichte zwischen Kemal und Füsün, die uns einen Einblick in die gesellschaftliche Ordnung der türkischen Oberschicht Mitte der 70er Jahre gibt. Es ist eine von Männern geprägt Gesellschaft, die aus dem Westen eine Reihe von Wunschbildern importiert, daraus aber ein höchst ambivalentes Modell für das Zusammenleben von Mann und Frau ableitet.

"Mir war eher so, als hätte ich es nötig, mich wieder einmal in eine Männergesellschaft zu begeben, um mich nicht noch weiter in Schuldgefühle und Zweifel zu verstricken und was der gefährlichen Sphären noch so sind, aus denen eine Liebe sich nährt", wird der Protagonist im Laufe des Romans feststellen.

Zuerst steigt der Mann zur schönen Frau ins Bett, um danach bei einem Fenerbahce-Match seinen Status als bestimmendes Wesen in der Geschlechterordnung zu zementieren. Die Frau darf schön und verführerisch sein, zugleich soll sie aber nur einem einzigen Mann gehören und jungfräulich in den Stand der Ehe eintreten - während der Mann zugleich eine doppelte Beziehung führen darf: die offizielle mit der Ehefrau - und die private mit der Geliebten. Eingeschrieben ist dieser Konstellation: Wahre Leidenschaften lassen sich nur im heimlichen Eskapismus erfüllen.

Amour fou vor der Verlobung
So geht es auch dem Ich-Erzähler in Pamuks neuem Roman: Kemal, ein junger Mann aus angesehenem Istanbuler Haus, steht knapp vor der standesgemäßen Verlobung mit seiner Freundin Sibel, da lernt er die gerade volljährig gewordene Füsün kennen, die eine entfernte Verwandte aus "ärmeren" Verhältnissen ist und mit der Kemal ein paar Kindheitserinnerungen teilt.

Zwischen Kemal und Füsün entspinnt sich knapp vor der Verlobung Kemals eine Amour fou. "Mir wurde kurz bewusst, dass ich mich bereits verhielt wie all die Männer, deren eigentliches Glück von einer Geliebten herrührt, die aber so tun, als seien sie wegen ihrer Ehefrau und ihrer Familie glücklich", hält Kemal fest.

Die gesellschaftlichen Machtverteilungen erlauben es eigentlich, Ehefrau und Geliebte unter einen Hut zu bringen - doch Kemal verliert Füsün, weil er sich nicht an eine Abmachung halten kann: Füsün nie zu belügen. Der Verlust Füsüns bringt Kemal den tiefen Fall - und die Sehnsucht, dem vergangenen Leben und der reinen Liebe einen Schrein zu errichten: das "Museum der Unschuld".

"Orhan Pamuk" soll helfen
In dem Museum hortet er schließlich kleine Andenken, persönliche und alltägliche Gegenstände, die alle noch einmal die intensiven Wochen mit Füsün wachrufen sollen. Zur Komplettierung seines Projekts benötigt Kemal eine vertrauenswürdige Person aus der Istanbuler Gesellschaft: Und diese Person ist Orhan Pamuk selbst, der im Finale des Romans auftritt und alle großen Erinnerungsprojekte der Weltliteratur Revue passieren lässt.

Der Griff von der fiktiven in die (scheinbar) reale Welt ist ein heikler Kunstgriff des Romanciers. Letztlich hat die Konstruktion des Museums eine Funktion: die am Ende immer defizitäre, erschriebene Kunstwirklichkeit durch die Illusion einer real erlebbaren Erfahrung aufzuwerten. Es ist ein Charakteristikum der Literatur nach 1945, dass Autoren den Mitteln der Sprache misstrauen und immer in den anderen Kunstsystemen nach jenen Möglichkeiten suchen, mit denen sich so etwas wie die Komplettheit von Erfahrung wiederherstellen lässt.

Die Aura der Gegenstände
Pamuks Kunst zehrt letztlich von der Utopie, dass sich die fiktive Welt immer an greifbare Gegenstände, Orte und Personen koppeln lässt. Die Proust'sche Madelaine will Pamuk selbst in den Händen halten. Genau dieser beinahe kindlichen Sehnsucht verschreibt sich sein Museumsprojekt.

"Das Museum", so Pamuk jüngst in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", "entsteht aus Enttäuschung, aus unerwiderter Liebe. Die Objekte dokumentieren die Liebe weniger, als sie dazu dienen, die Frau zu symbolisieren. Kemal spürt an ihnen der vergangenen Wärme nach, riecht an ihnen, befühlt sie. Er braucht das, um sich zu erinnern."

Die Taktilität der Erinnerung
Während Proust die vom Objekt ausgelöste Erinnerung im Fluss der Sprache auflöst und sich deren freiem Spiel verschreibt, baut Pamuk, wie er selbst sagt, auf die Aura des Gegenstandes. Sein Roman ist letztlich so geschrieben, als ließe sich über die Sprache so etwas wie eine Taktilität der Erinnerung herstellen.

Auch deshalb wählt er als Blickwinkel für seine Liebesgeschichte einen Mann, der, obwohl Mitglied der Oberschicht, nicht im Medium der (Schrift-)Sprache beheimatet ist und seine Erinnerungen über Gegenstände sortiert.

Schon in "Schnee" nutzte Pamuk eine mehrfach gebrochene Konstruktion, um die Herkunft der erzählten Geschichte in einer scheinbar realen Gegenwart zu verorten. Die Leser können sich nun aussuchen, ob dieser Modus eher einer orientalischen Tradition geschuldet oder ob Pamuk letztlich ein Postmodernist an der Schwelle von Osten und Westen ist.

Oralität vs. Literalität
Möglicherweise gibt es eine dritte Lösung, die kundige Medienforscher noch untersuchen müssten: Wie sehr kreuzt sich bei Pamuk das Selbstverständnis einer Kultur, die erst in jüngerer Zeit eine lateinisch Alphabetschrift bekommen hat, mit einer globalen Befindlichkeit, die von elektronischer Reizüberflutung geprägt ist? Teil der Atatürk'schen Kulturrevolution war es ja, Literalität durch eine vereinfachte Alphabetschrift zu fördern.

Auf der anderen Seite sieht sich gerade diese junge Literalisierung herausgefordert durch eine westliche, elektronische Kultur der Reizüberflutung, in der das Literale zurückgedrängt und orale Muster wieder stärker werden.

Vielleicht muss man gerade im Fall Pamuk die Sprachkritik der westeuropäischen Literatur um eine entscheidende Nuance erweitern. Literalität und Oralität werden in seinen Romanen ein Dreivierteljahrhundert nach Joyce zweifelsohne neu beleuchtet. Und das geschieht in einem kulturellen Rahmen, der möglicherweise weit über die Absichten des Autors hinausgeht.

Gerald Heidegger, ORF.at

Buchhinweis
Orhan Pamuk: Das Museum der Unschuld. Carl Hanser, 565 Seiten, 25,60 Euro.

TV-Hinweis
3sat bringt am 11.10. um 20.15 Uhr "Orhan Pamuk: Mein Istanbul" - eine Dokumentation von Günter Schilhan. Am 13.10. ist die Doku auch in ORF2 im Rahmen des Kulturmontags zu sehen.

Links: