So lakonisch hielt es der Kafka-Forscher Reiner Stach im ersten Teil seiner monumentalen Biografie über Franz Kafka ("Kafka. Die Jahre der Entscheidungen") vor gut sechs Jahren fest.
Nun, zum 125. Geburtstag des spröden Schriftstellers aus Prag, hat Stach sein biografisches Projekt fast abgeschlossen und den Band "Kafka. Die Jahre der Erkenntnis" vorgelegt. Der Jugend Kafkas will sich Stach nach Klärung von Nachlassfragen in einem eigenen Band widmen. Nahtlos schließt Stach an seinen bisherigen Kafka-Lebensroman an - was für einen Neueinsteiger doch eine doppelte Belastung bringen wird (denn man braucht dann auch den ersten Biografie-Band und hat damit gut 1.300 Seiten Text vor sich).
Ein halbes Leben für Kafka
Seit einem Vierteljahrhundert beschäftigt sich Stach mit Werk und Leben Kafkas, das er mittlerweile mit zahlreichen Lesungen und Interviews durch die Lande trägt. Blickt man auf Stachs frühes Kafka-Buch "Kafkas erotischer Mythos. Eine ästhetische Konstruktion des Weiblichen" aus dem Jahr 1987, dann lässt sich leicht eruieren, um welche Zentren der Biograf sein Material gruppiert. Es sind die Frauen, die im Leben Kafkas mehr im Raum des Phantasmas (und damit des Schreibens) als in der Wirklichkeit ihren Platz fanden.
Felice im Zentrum
Schon der erste Band der Kafka-Biografie hatte ein Telos: die (Fern-)Beziehung Kafkas mit Felice Bauer. Sie hatte der Prager Versicherungsangestellte über die Vermittlung seines Freundes Max Brod im Jahr 1912 kennengelernt.
Zweimal wird sich Kafka mit dieser Frau, die für Stach das Symbol einer neuen weiblichen Emanzipation ist, verloben. Beide Verlobungen werden wieder aufgelöst, am Ende markiert die Diagnose der Tuberkulose bei Kafka im Jahr 1917 das Ende der komplizierten Beziehung, die während einer kurzen Phase in Marienbad so etwas wie einen knappen erotischen Höhepunkt hatte.
Fünf Jahre hat Kafka um sie geworben, sie auch immer wieder zurückgestoßen - und all das wurde in täglich zirkulierenden Briefen festgehalten. Für Stach lässt sich am Umgang Kafkas mit Felice das Wesen Kafkas ebenso ergründen wie der Geist einer Epoche erschließen.
Der Krieg im Hintergrund
Im Hintergrund der Beziehung steht der Erste Weltkrieg, der Aufbruch des Judentums zu einer neuen Eigenständigkeit - und die Emanzipation der Frau. Felice Bauer, die in ihrer Familie die Muster des Patriarchats durchkreuzt, wird bei Stach zur Gegenfolie des ständig um die Selbstbefreiung vom väterlichen Joch kämpfenden Kafka.
Stach nimmt das Handwerk des publikumsdienlichen Biografen ernst. Die Entstehungsgeschichte von Kafkas "Prozess" führt Stach eng an die erste "Entlobung" zwischen Kafka und Bauer. Thematische Bezüge mögen naheliegend sein, die Forschung wird solche Erhellungen nicht so gerne sehen.
Wie viel muss man über Kafka wissen?
Überhaupt stellt sich die Frage, wie sehr man das diesjährige Kafka-Jubiläum zur biografischen Lektüre verwenden sollte. Dem Jubel der "Welt" zum neuen Stach-Band, "Kafka erscheint uns nun viel klarer", mag man sich nur bedingt anschließen: Möglicherweise ist es eben doch nur ein Vexierbild zum Leben des Franz Kafka, das hier vorliegt, auch wenn die Fülle der Materialdurcharbeitung großen Respekt abnötigt.
Kafkas Werk spricht für sich, oder anders gesagt: Es möchte eben nicht alles bis ins Letzte ausformulieren und in Klarheit ertränken. Seine literarische Welt ist bewusst um leere Räume, unerreichbare Autoritäten und Instanzen gruppiert.
Der alleinstehende Bankprokurist Josef K. aus dem "Prozess" muss sein Leben im Schatten eines unsichtbaren Gerichts in schutzloser Einsamkeit bestehen. Auch im "Schloss" erfährt der Fremde keine Sicherheit über sein weiteres Bleiben. Kafkas Figuren sind immer ausgesperrt. "Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Land und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, dass er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne", liest man in der Parabel "Vor dem Gesetz".
"Ich soll ihnen die Geschichte erklären"
"Sie haben mich unglücklich gemacht", schreibt der Berliner Bankdirektor Siegfried Wolff im Jahr 1915 an den Autor der "Verwandlung" in einem Leserbrief (Stach zitiert ihn im Kapitel "Kafka trifft auf seine Leser"): "Ich habe Ihre Verwandlung gekauft und meiner Kusine geschenkt. Die weiß sich die Geschichte nicht zu erklären. Meine Mutter hats ihrer Mutter gegeben, die weiß auch keine Erklärung. (...) Nun haben sie an mich geschrieben. Ich soll ihnen die Geschichte erklären. Weil ich der Doctor der Familie bin. Aber ich bin ratlos. (...) Also bitte sagen Sie mir, was meine Kusine sich bei der Verwandlung zu denken hat."
Ob Dr. Kafka Herrn Dr. Wolff zurückgeschrieben hat, kann die Kafka-Biografie nicht beantworten. Es sei aber unwahrscheinlich, dass sich Kafka "den Spaß einer lakonischen Belehrung hat entgehen lassen", mutmaßt Stach. So verhält es sich leider mit vielen Perlen des schreiberischen Lebens Kafkas - sie hängen mitunter am seidenen Faden von Mutmaßungen.
Vernichtete Spuren
Kafka wollte bewusst Spuren zu seinem Leben, das dem Schreiben so gänzlich untergeordnet war, verschütten. Die Antwortbriefe auf seine Schreiben hat er vernichtet, und eigentlich sollte ja auch Max Brod Kafkas unvollendetes Werk dem Feuer überantworten.
Brod hat das nicht getan, sondern die Materialien so stark begradigt und mit seiner sortierenden Sicht auf Kafka editiert, dass eine Vielzahl an Philologen sehr viele Jahre damit verbringen mussten, einen unverfälschten Kafka wieder zugänglich zu machen.
Jetzt sitzt man vor einem offenen Werk - und zwei monumentalen Biografiebänden, die zwar viel Licht in das Leben Kafkas zu bringen scheinen. Doch ob man Kafka damit so viel näherkommt (ja näherkommen muss), darf bezweifelt werden.
Kafkas Welt samt den späteren Beziehungen zur Journalistin Milena Jesenska und seiner letzten Gefährtin Dora Diamant war eine abgründige, die Welt seiner Familie eine katastrophische: Viele Mitglieder der Familie Kafka starben in den Konzentrationslagern der Nazis, seine Schwestern Elli und Valli in Chelmno, Ottla in Auschwitz. Stach hat die Welt um Kafka sorgsam rekonstruiert. Seine Monumentalbiografien haben am Ende ein durchgängiges Thema: das des Verlusts.
Gerald Heidegger, ORF.at
Buchhinweise
- Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis. S. Fischer, 726 Seiten, 30,80 Euro.
- Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen. S. Fischer, 675 Seiten, 30,80 Euro. (Die Ausgabe gibt es mittlerweile auch als kostengünstigeres Taschenbuch.)
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