Romane und Erzählungen

Viel Brisantes aus Geschichte und Gegenwart bieten diese Romane und Erzählungen.
Zahlreiche Neuerscheinungen laden heuer wieder dazu ein, in den Urlaub mitgenommen zu werden. Eine kleine Auswahl sei hier präsentiert.

861 Seiten, "restlos überzeugend"
Der Australier Elliot Perlman hat sich mit seinem zweiten Roman "Sieben Seiten der Wahrheit" auf direktem Weg in die Herzen der Leser im englischsprachigen Raum geschrieben.

Der 44-jährige Autor erzählt die Geschichte des verzweifelten Simon, der zehn Jahre nach Beziehungsende immer noch unglücklich in Anna verliebt ist. Um ihr näher zu kommen, entführt er ihren Sohn. Sieben Protagonisten erzählen die Handlung abwechselnd aus ihrer jeweiligen Perspektive, von Simon und Anna über deren Partner bis hin zum Psychotherapeuten des jungen Mannes.

Die "New York Times" findet das Buch zwar teilweise anstrengend, allerdings zahle sich das Dranbleiben insgesamt eindeutig aus. "Entertainment Weekly" hingegen schreibt begeistert: "Der Roman fängt die Komplexität des modernen Lebens brillant ein (...) und ist ein spannender 'Page-Turner'. Dieser berauschende Roman ist unendlich vielschichtig." Auch die "Süddeutsche Zeitung" findet das 861 Seiten starke Buch "restlos überzeugend".

Elliot Perlman: Sieben Seiten der Wahrheit. DVA, 861 Seiten, 23,60 Euro.

Die Suche nach dem verlorenen Sohn
Der 38-jährige New Yorker Nathan Englander sorgte für die literarische Sensation des Frühsommers. Schon nach seinem Erscheinen im englischsprachigen Raum wurde "Das Ministerium für besondere Fälle" von praktisch allen maßgeblichen Feuilletons als Glücksfall beschrieben, nun zeigen sich die Rezensenten im deutschen Sprachraum ebenso begeistert.

In seinem Roman greift Englander eines der brisantesten Themen der argentinischen Geschichte auf, die "Verschwundenen" während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Erzählt wird die Geschichte eines Burschen, der offenbar verhaftet wurde. Dessen Eltern versuchen, etwas über seinen Verbleib herauszufinden.

Trotz des tristen Themas mangelt es Englander nicht an Witz, wenn er den tollpatschigen Vater beschreibt bei seinen Bemühungen, im Ministerium, das an Kafkas Schloss erinnert, etwas auszurichten; ein tragikomischer, temporeicher, hervorragend geschriebener Roman.

Nathan Englander: Das Ministerium für besondere Fälle. Luchterhand, 445 Seiten, 20,60 Euro.

Israels "Platoon"
Einen Anti-Kriegsroman in "Platoon"-Manier hat der 31-jährige israelische Autor Ron Leshem mit "Wenn es ein Paradies gibt" geschrieben und in seiner Heimat damit den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Das Buch sorgte für lebhafte Debatten, wurde mit Preisen überhäuft, und die Verfilmung ("Beaufort") war für einen Academy Award nominiert.

Leshem beschreibt darin den Alltag von ein paar Dutzend jungen Soldaten in der Festung Beaufort, die eigentlich nur noch gehalten wird, um später den geordneten Rückzug anzutreten. Man steht unter dem Beschuss der Hisbollah.

Eigentlich hätten die Burschen nur Sex und Fortgehen im Kopf, nun müssen sie sich mit dem allgegenwärtigen Tod auseinandersetzen. Eindrucksvoll gibt Leshem den deftigen Soldatenjargon wieder. In der Übersetzung von Markus Lemkes geht nichts davon verloren.

Ron Leshem: Wenn es ein Paradies gibt. Rowohlt, 352 Seiten, 20,50 Euro.

Nie wieder Kuchen essen mit Verwandten
Wer sich am Strand nach dem komplizierten Stadtleben sehnt, ist mit Christiane Rösingers kurzweiligem autobiobiografischen Skizzenroman "Das Leben ist schön" gut bedient: von der Sehnsucht des Provinzkindes nach der Großstadt, dem Leben in der Bar, dem Musikbusiness zwischen Champagner, Tourbus, Post-Tourdepression und den Subkulturen Berlins.

Die ehemalige Lassie-Singers- und heutige Britta-Sängerin schildert, warum sie als junge Frau nicht länger auf dem Dorfacker im Schwarzwald in eine Karotte singen und mit Verwandten Kuchen essen wollte. Sie bricht auf nach Berlin, wo sie im Kreuzberg der 80er Jahre die legendäre Frauenband Lassie Singers gründet.

Christiane Rösinger: Das schöne Leben. Fischer, 201 Seiten, 9,20 Euro.

Glanzvolle Prosa für Rauchpausen
Noch weitgehend unbekannt ist in Österreich der bulgarische Autor Dejan Enev. In seiner Heimat hingegen gilt er als eine der wichtigsten literarischen Stimmen. Der in Österreich lebende Schriftsteller Dimitre Dinev stellte eine Sammlung der wichtigsten Erzählungen Enevs zusammen, die nun bei Deuticke erschienen ist.

"Zirkus Bulgarien" heißt das Buch, und der Untertitel "Geschichten für eine Zigarettenlänge" gibt bereits das Tempo vor. Die kurzen Prosastücke sind prägnant und lassen den Leser doch in der Schwebe zurück. Obskures mischt sich in das Alltagsgeschehen, dem Enev Komik und Tiefe abringt.

Das Nachwort Dinevs sollte man vielleicht noch vor den Kurzgeschichten selbst lesen. Hier erfährt man unter anderem, dass Enev die Kunst der Kurzprosa perfektioniert - und nie einen Roman geschrieben hat. In Bulgarien wird die kurze Form gleichwertig aufgenommen wie die lange - vollkommen zu Recht, wie man im Fall Enevs sehen kann.

Dejan Enev: Zirkus Bulgarien. Geschichten für eine Zigarettenlänge. Deuticke, 233 Seiten, 18,40 Euro.

Die "existenzielle Wucht" der Liebe
Höchste Anerkennung wurde dem rumänischen Autor Mircea Cartarescu für sein Ende letzten Jahres auf Deutsch erschienenes postmodernes Meisterwerk "Die Wissenden" zuteil. Dem fulminanten Buch (auch eine Empfehlung für den Sommer) folgte nun ein Band mit Kurzgeschichten, von denen viele ursprünglich in der rumänischen "Elle" erschienen sind.

In "Warum wir die Frauen lieben" lernt man einen anderen Cartarescu kennen. Leichtfüßig nähert er sich dem großen Thema Liebe, ohne jedoch "lifestylig" daherzukommen. Seine Liebe gilt wie seine Verzweiflung nicht nur den Frauen, sondern auch der Literatur.

Und so kreisen die intimen Geschichten teils um ihn selbst, um bewunderte, geliebte, verlorene Frauen, immer auch um die Welt der Bücher und um Rumänien im gesellschaftlichen Wandel. Die "Neue Zürcher Zeitung" bescheinigt den Erzählungen "existenzielle Wucht".

Mircea Cartarescu: Warum wir die Frauen lieben. Suhrkamp, 171 Seiten, 18,30 Euro.

Europas brüchiger Schutzwall
In seinem neuen Roman "Eldorado" beschäftigt sich der französische Autor und Prix-Goncourt-Preisträger Laurent Gaude mit der Grenze Europas. Vor Sizilien wird die vielbeschworene "Festung Europa" gegen illegale Einwanderer verteidigt.

Gaude zeigt in seinem Buch die Wandlung des Marinekommandanten Piracci, der zuerst verbissen seine Aufgabe erfüllen will und durch persönliche Begegnungen immer mehr Verständnis für das Schicksal der ungeliebten "Illegalen" aufbringt.

Gaudes zentrales Thema ist dabei der unstillbare Hunger auf ein besseres Leben.

Laurent Gaude: Eldorado. dtv, 235 Seiten, 15,40 Euro.

Russisches Orgientheater
Eine Abrechnung mit der Ära Putin hätten sich viele vor allem westliche Kritiker von dem neuesten Buch des russischen Autors Vladimir Sorokin erwartet. Geworden ist es allerdings eine Dystopie über den allmächtigen Orden der Opritschniks - die religiös-politische Ordnungsmacht in einem russischen Sakralstaat der Zukunft.

Sorokin will mit seinem Roman provozieren: So baut er homosexuelle Orgien und reichlich Drogen in die Handlung von "Der Tag des Opritschniks" ein.

Der Sinngehalt seines neuesten Werkes ist, wie so oft bei Sorokin, ein vielfältiger oder eben gar keiner - das kommt darauf an, ob sich der Leser auf das dystopische Universum mit ordentlich trashigen Einlagen einlassen kann und auch will.

Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks. Kiepenheuer und Witsch, 220 Seiten, 19,50 Euro.

Auf Houellebecqs Spuren
Der englische Schriftsteller Joe Stretch begibt sich in seinem Roman "Widerstand" in die Fußstapfen des französischen Enfant-terrible-Romanciers Michel Houellebecq. Im Mittelpunkt steht Sex - oder das Fehlen desselbigen.

Die Handlung spielt in Manchester und begleitet einige junge Leute bei diversen Spielarten von Sex - und eben auch dabei, wie ihnen der Sex fehlt.

An sein französisches Vorbild kommt Stretch dabei nicht annähernd heran, doch das launig geschriebene Buch eignet sich allenthalben als schnell zu lesende Strandlektüre ohne störenden Tiefgang.

Joe Stretch: Widerstand. Rowohlt, 384 Seiten, 20,50 Euro.

Im kasachischen Zug
Wer am Strand ein bisschen angeben und sich trotzdem nicht anstrengen möchte, dem sei Lutz Seilers dünnes Bändchen "Turksib" empfohlen. Da steht auf einem Pickerl auf dem Cover "Bachmann Preis 2007" drauf.

Den hat sich Seiler auch verdient. Die beiden Erzählungen des Buches bleiben mit starken Bildern in Erinnerung. Alleine die seitenlange Beschreibung des Zusammenstoßes eines Heizers und eines Passagiers auf dem Gang eines kasachischen Zuges ist so einprägsam, dass selbst ein Vergleich mit Dostojewski nicht unangebracht scheint.

Poetisch und voll trockenen Humors sind beide Geschichten. "Turksib" ist ein kurzes Buch, das lange nachwirkt. Die Eisenbahngeschichte will Seiler zu einem Roman ausbauen. Man darf gespannt sein.

Lutz Seiler: Turksib. Suhrkamp, 48 Seiten, 13,20 Euro.

Österreichische Taschenbücher
Der Innsbrucker Haymon Verlag hat soeben die erste österreichische Taschenbuchreihe gestartet. Verleger Markus Hatzer erklärt, weshalb: "Viele wichtige Bücher österreichischer Autoren finden am deutschen Taschenbuchmarkt keinen Platz oder werden nach kurzer Zeit nicht mehr aufgelegt."

Die ersten fünf Titel, Werke von Michael Köhlmeier, Christine Lavant, Helene Flöss und (zweimal) Felix Mitterer, liegen nun vor, künftig sind zweimal sechs Titel pro Jahr mit Schwerpunkt auf der österreichischen Gegenwarts- und Nachkriegsliteratur geplant.

Die dünnen Taschenbücher sind ideale Begleiter für den Urlaub (ein Buch entspricht in etwa einer längeren Zugfahrt) und nicht nur für Gymnasiasten interessant.

Michael Köhlmeier: Trilogie der sexuellen Abhängigkeit. Haymon tb, 88 Seiten, 9,95 Euro.

Christine Lavant: Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus. Haymon tb, 114 Seiten, 9,95 Euro.

Felix Mitterer: Kein Platz für Idioten. Haymon tb, 143 Seiten, 9,95 Euro.

Felix Mitterer: Sibirien. Haymon tb, 72 Seiten, 9,95 Euro.

Helene Flöss: Dürre Jahre. Haymon tb, 86 Seiten, 9,95 Euro.

Kein Sommerbuch
Rein gar kein Sommerbuch, aber dennoch lesenswert ist das neue Werk von Suhrkamp-Chefin Ulla Berkewicz. In "Überlebnis" beschreibt sie die letzten Wochen am Totenbett ihres "Lebensmenschen" Siegfried Unseld.

"Nie lebt man so sehr, wie wenn man stirbt." Und so durchleben die beidem im Abschied Angst und Liebe in ungeahnter Intensität. Um sie herum, im Krankenhaus: Sterben, boshafte Pfleger und Ärzte, eine Umwelt, die immer unwichtiger wird.

Als Verlegerin war Berkewicz von ihrem Antritt vor fünf Jahren an höchst umstritten. Und selbst in den Besprechungen dieses intimen Buches spiegelt sich das wider. Die "taz" sieht das "Literarische" mit dem "Machtpolitischen" des Verlages verquickt. Andere zollen dem beklemmenden Zeugnis Achtung. Ein bemerkenswertes Buch.

Ulla Berkewicz: Überlebnis. Suhrkamp, 138 Seiten, 15,30 Euro.

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