Zwei Drittel des Konzerts waren schon gelaufen. Dylan spielte gerade seinen 43 Jahre alten Klassiker "Highway 61 Revisited". Seine Tausenden Wiener Jünger fassten das offenbar als Zeichen auf. Sie erhoben sich von ihren Sesseln, stürmten nach vor zur Bühne, um Dylans Gospel näher zu sein - und aus dem bis dahin eher beschaulichen Auftritt eines netten älteren Herren mit seiner Band wurde ein Rockereignis.
Atmosphäretief zu Beginn
Die kleine Revolution des Publikums war dringend notwendig. Dylans Auftritt in Wien begeisterte zwar schon zuvor durch die Spielfreude und erstaunlich gute Laune des 67-Jährigen und die Vielseitigkeit seiner Musiker, litt aber unter einem massiven Atmosphäreproblem.
Bei seiner aktuellen Tour durch Europa spielt Dylan in Klubs für 1.500 Besucher ebenso wie in zehnmal so großen Hallen, und beim Wien-Konzert wurde schnell klar, dass die distanzierte und doch intime Melancholie seiner aktuellen Arrangements dort nichts zu suchen hat.
Schwierige Stimme
Trotz Highlights wie einer treibenden, wild verzerrten Version von "The Levee's Gonna Break" erinnerte das Konzert zu Beginn unangenehm an den Auftritt eines Predigers in einer Megachurch - ein Eindruck, der durch die schwierige Akustik in der Halle noch verstärkt wurde.
Stimmlich war Dylan zwar in Topform und wechselte problemlos zwischen Sprechgesang, gutturalem Krächzen und perfekten Harmonien, doch mit dieser Dynamik wurde das Soundsystem in der Stadthalle nicht fertig. Dylans Stimme war stellenweise so laut gemischt, dass seine hervorragend eingespielten Mitmusiker vollkommen untergingen.
Klassiker als Zugabe
Am Ende spielten all diese Probleme aber keine Rolle mehr. Mit "All Along The Watchtower" lieferten Dylan und Band eine umjubelte Zugabe.
Allein die Tatsache, dass hier der originale Interpret einen der einflussreichsten Songs aller Zeiten 40 Jahre nach seinem Entstehen noch einmal live zum Besten gab - und das noch dazu so enthusiastisch, als wäre es ein brandneuer Rockhit -, sorgte für Gänsehaut.
Perfekt eingespielte Band
Die "Never Ending Tour" - so nennen Dylans Fans seine umfangreichen Konzertaktivitäten seit 1988 - wird am Mittwoch in Salzburg fortgesetzt. "Never ending" scheint zwar auch der Reigen der Umbesetzungen bei der Band zu sein - außer dem Bassisten Tony Garnier, der seit fast 20 Jahren mit Dylan spielt, sind die Musiker alle erst seit wenigen Jahren dabei -, und doch ist sie eine Konstante geworden.
Mit unglaublicher Leichtigkeit spielt sie sich durch das mehr als umfangreiche Repertoire ihres Dienstgebers, scheinbar aus dem Stand scheint sie sich selbst auf die unbekanntesten Nummern daraus einstellen zu können, die Dylan im täglichen Wechsel einstreut, und selbst die wenigen Fixpunkte im Programm werden ständig adaptiert und umarrangiert.
Keine Fotos, keine Interviews
Dylan gab sich in Wien exzentrisch wie eh und je. Fotografen und TV-Teams waren zu dem Konzert nicht zugelassen, und Interviews gibt der enigmatische Musiker ohnehin so gut wie nie.
Die Londoner "Times" konnte vor kurzem wieder einen dieser extrem seltenen Termine ergattern; dabei schien Dylan allerdings vor allem am Gespräch über seine Ausflüge in die bildende Kunst interessiert. Er stellt derzeit 80 Skizzen, Zeichnungen und Gemälde in einer Galerie in London aus.
Um mehr über Dylan als Musiker - und als Bühnenstar - zu erfahren, muss man weiter zurückblicken. "Diese sogenannten Connaisseurs von Bob-Dylan-Musik? Ich glaube nicht, dass sie irgendeine Ahnung davon haben, wer ich bin und worum es mir geht. Dass diese Leute so viel Zeit damit verbringen, über wen - mich? - nachzudenken ... bitte, habt ihr nichts Besseres zu tun?", wetterte er 2001 ebenfalls in der "Times".
Trotzdem waren sie auch in Wien zu Tausenden gekommen: die treuen Dylan-Jünger, die, wenn sie ihrem Messias nicht gleich auf ganzen Tourabschnitten nachreisen, zumindest Bootlegs und Setlisten jedes einzelnen Auftritts sammeln, katalogisieren und auf Variationen und Konstanten durchforsten.
"Thank you, friends"
Mit dem nicht zuletzt wegen seiner Geheimniskrämerei aufgekommenen Ruf, er sei der mürrische alte Mann des Rock 'n' Roll, hat Dylan zumindest bei diesem Konzert aufgeräumt. Der Sänger, der gerade seinen 67. Geburtstag feierte, wirkte entspannt, nahezu fröhlich, und das, obwohl er sich mitten auf einer mehrmonatigen Konzertreise durch halb Europa befindet. Sogar ein unerwartetes "Thank you, friends" entkam dem wortkargen Musiker am Ende seines zweistündigen Sets.
Dass dieser Mann nach einem offensichtlichen Tief in den 80ern und auch in den 90ern gerade einen späten Karrierehöhepunkt durchlebt, war spätestens nach der Veröffentlichung des letzten Studioalbums "Modern Times" vor zwei Jahren klar. Diesen Eindruck hat Dylan nun ganz handfest bestätigt.
Michael Höck, ORF.at
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