Gesamtkunstwerk Karajan

Herbert von Karajan und der "Fall Sabine Meyer".
Herbert von Karajan steht im Backstage-Bereich hinter der Bühne und dirigiert - und zwar die Reihenfolge jener, die noch einmal nach vorne dürfen, um sich beim Publikum Applaus abzuholen.

Die Aufnahme aus der Dokumentation "Karajan oder Die Schönheit, wie ich sie sehe" spricht Bände: Herbert von Karajan (1908-1989) gab ein halbes Jahrhundert den Ton in der Musikwelt an. Eine internationale Fangemeinde lag ihm zu Füßen, für seine Kritiker war er hingegen hauptsächlich ein machtbewusster Konzernchef, der ein einziges Produkt millionenfach vermarktete - sich selbst.

Salzburg, Wien, Berlin, London
Eine Ämterfülle, wie sie Karajan in der Nachkriegszeit besaß, ist in der Musikgeschichte vermutlich ohne Beispiel.

Er war zeitweise gleichzeitig künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper und den Wiener Philharmonikern eng verbunden, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und des Philharmonia Orchestra London sowie künstlerischer Leiter der Salzburger Festspiele.

"Ich werde überall gebraucht"
Bei der Deutschen Grammophon, seiner langjährigen Plattenfirma, hielt er die Fäden fest in der Hand, produzierte eine Scheibe nach der anderen. Ein Witz kursierte damals: Als ein Taxifahrer Karajan nach dem Ziel fragt, antwortet der Maestro: "Egal, ich werde überall gebraucht."

Mit unbändiger Energie trieb er die Berliner Philharmoniker an, erarbeitete mit dem Orchester das klassisch-romantische Repertoire, feilte mit zuweilen nervender Perfektionswut am Klang - bis es zum Streit kam.

Öffentlich ausgetragener Machtkampf
Der "Fall Sabine Meyer" steht exemplarisch für Karajans Machtverständnis. 1982 engagierte der "Chefdirigent auf Lebenszeit" für seine Philharmoniker eine vielversprechende junge Klarinettistin. Doch das Orchester wollte sich die Musikerin nicht aufzwingen lassen und lehnte sie mit 73 zu vier Stimmen ab.

Während sich Meyer selbst angesichts der Querelen nach wenigen Monaten freiwillig zurückzog und heute eine international gefragte Soloklarinettistin ist, wurde die Angelegenheit für die Philharmoniker und für ihren Chefdirigenten, der Widerspruch nicht gewohnt war, zum erbitterten Prinzipienstreit.

Die Musikwelt verfolgte mit zunehmendem Entsetzen einen quälenden, öffentlich ausgetragenen jahrelangen Machtkampf zwischen den Musikern und Karajan mit Drohungen, Erpressungen, Vertragskündigungen.

"Vernichtungskrieg"
Es war ein "bitterböser Vernichtungskrieg", wie sich der langjährige Intendant der Berliner Festspiele, Ulrich Eckhardt, jüngst im Deutschlandradio Kultur erinnerte. Die Musik spielte dabei nur noch die zweite Geige, ebenso die Frage nach der männlichen Dominanz bei den Orchestermusikern.

Das alles endete nach jahrelangen trotzigen Protestreaktionen auf beiden Seiten, "Waffenstillständen" und einem trügerischen Versöhnungskonzert mit der Kündigung Karajans. Der gab seinen lebenslangen Berliner Vertrag im April 1989 auf, ein Schritt, den es in der Geschichte der Berliner Philharmoniker noch nie gegeben hatte.

Von NS-Führung bevorzugt
Ein bitteres Ende für den Machtmenschen, ohne den zuvor, zwischen Kriegsende und Mauerfall, im europäischen Konzert- und Opernbetrieb fast gar nichts gegangen war.

Der Nationalsozialismus, der Dirigenten wie Erich Kleiber, Fritz Busch und Otto Klemperer ins Exil trieb, bot dem jungen Karajan große Entfaltungsmöglichkeiten. Später spielte er seinen Eintritt in die NSDAP als "reine Formalität" herunter. Wegen seiner NS-Beziehungen wurde Karajan nach dem Krieg von den Alliierten für ein Jahr mit Berufsverbot belegt.

Im Jetset zu Hause
Zum "System Karajan" gehörten auch das schillernde Promileben, die schnellen Autos und die Privatflugzeuge. Karajans dritte Ehe mit dem französischen Model Eliette Mouret füllte die Spalten der Klatschpresse.

An diesem Bild arbeitete Karajan ein Leben lang. Geschlossene Augen, leuchtend graue Frisur, Rollkragenpullover oder Frack - mit weit ausholender Hand zog der Maestro auf dem Podium alle Aufmerksamkeit auf sich. Zu gestischen Ausbrüchen ließ er sich nicht verleiten, ein Fingerzeig genügte. Wie in Trance stand er in den Filmaufnahmen seiner Konzerte vor dem Orchester, die Musiker verschwommen im Halbdunkel, gestochen scharf dagegen die Karajan-Totale.

Der perfekte Klang
Der deutsche Musikwissenschaftler Peter Uehling führt den Erfolg des Dirigenten auf dessen Werkverständnis zurück. Karajans Glaube, es gebe ein Klangideal jenseits der Interpretation, habe bei den Hörern einen Nerv getroffen.

"Dem Komponisten gerecht werden zu wollen ist das Arbeitsethos der meisten Dirigenten. Es ist nicht das Karajans", schreibt Uehling in seiner jüngst erschienen Biografie des Dirigenten (Rowohlt). In den Plattenaufnahmen habe Karajan seine eigene Vorstellung von Perfektion verwirklicht.

Fest steht, dass diese Aufnahmen auch fast zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Stardirigenten eine sichere Bank für die Plattenfirmen sind. Die Klassikindustrie hat alle Register gezogen: Seit Wochen feiern CD-Editionen, DVDs, Bildbände und Erinnerungsbücher den Meister der Selbstinszenierung und genialen Musikvermittler.

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