Stasi-Methoden beim Diskonter

"Wie Frau T. Konserven verräumt, (...) sieht gegenüber dem Kunden nicht sehr ansprechend aus", heißt es im Protokoll.
Der deutsche Lebensmitteldiskonter Lidl ist wegen des Vorwurfs der Mitarbeiterbespitzelung ins Visier von Datenschützern gerückt. Der Diskonter soll Mitarbeiter systematisch überwachen lassen, berichtete der "stern" am Mittwoch.

In vielen Filialen sei protokolliert worden, welcher Mitarbeiter wie oft zur Toilette gehe und wer mit wem womöglich ein Liebesverhältnis habe.

Außerdem seien Aufzeichnungen zur Fähigkeit der Mitarbeiter sowie zu deren Charakter gemacht worden. Der Redaktion liegen nach eigenen Angaben mehrere hundert Seiten interner Lidl-Protokolle vor.

Detektive und Miniaturkameras
Die Überwachung funktionierte laut "stern" immer nach dem gleichen Muster: Montagfrüh installierten von Lidl beauftragte Detektive in der jeweiligen Filiale meist zwischen fünf und zehn Miniaturkameras.

Dem Filialleiter wurde erzählt, es gehe darum, Ladendiebe aufzuspüren. Tatsächlich hätten die Detektive aber detaillierte Notizen zu den Mitarbeitern gemacht.

"Prüfen, wenn sie angerufen hat"
Diese lauten dann beispielsweise so: "Dienstag, 15.00: Frau J. führt seit einer halben Stunde Privatgespräche. Es ist zu prüfen, wen sie angerufen hat (Einzelverbindungsnachweis)."

"Montag, 13.40: Die Kräfte Frau E. und Frau F. unterhalten sich, auch vor Kunden, auf polnisch miteinander!"

"Donnerstag, 15.25: Wie Frau T. Konserven verräumt, ist schon sehr abenteuerlich. (...) Es ist alles sehr einfallsreich, sieht aber gegenüber dem Kunden nicht sehr ansprechend aus."

"Von 'Enthaltsamkeit' keine Spur"
So banal sich die Aufzeichnungen der Privatdetektive lesen, sie greifen tief in die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter ein. In den Protokollen finden sich etwa Anmerkungen über das Äußere der Mitarbeiter ("Frau M. ist an beiden Unterarmen tätowiert") und über ihre private Lebenssituation.

So heißt es in einem Protokoll: "Auch heute holt sich Frau X in ihrer Pause ein belegtes Brötchen vom benachbarten Bäcker. Von einer Privatinsolvenz und der damit verbundenen 'Enthaltsamkeit' keine Spur."

Lidl: Nicht Auftrag der Geschäftsführung
Lidl räumte am Mittwoch ein, dass in einzelnen Filialen Mitarbeiter möglicherweise mit Überwachungskameras bespitzelt wurden.

"Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen, dass es dazu Aufträge gegeben hat", sagte Jürgen Kisseberth, Mitglied der Geschäftsführung. Das sei aber nicht Auftrag der Geschäftsführung gewesen.

"Nicht gewollt"
Kisseberth zufolge schaltete Lidl zwei Detekteien ein, um durch Diebstahl verursachte "Inventurverluste" zu vermeiden. Das sei eine "handelsübliche Maßnahme". Die beiden Detekteien hätten aber nicht den Auftrag gehabt, Mitarbeiter auszuspähen. Ein Bespitzeln von Mitarbeitern sei "nicht gewollt".

Ihm lägen aber entsprechende Protokolle vor. Ob die Initiative dazu von den Detektiven oder Filialleitern ausgegangen sei, könne er nicht sagen. Lidl habe die Zusammenarbeit mit einer der Detekteien mittlerweile beendet und werde künftig nur noch mit sichtbar angebrachten Kamerasystemen in den Geschäften arbeiten.

"Keinerlei Konsequenzen für Mitarbeiter"
Am Mittwoch wies Lidl den Vorwurf der gezielten Bespitzelung von Mitarbeitern zurück. "Unser Ziel der Überwachung war stets nur die Verringerung von Diebstählen durch Mitarbeiter", sagte Kisseberth im "Hamburger Abendblatt" (Donnerstag-Ausgabe).

Die Daten, die die beauftragte Detektei über das Privatleben der Mitarbeiter in 219 Filialen des Konzerns notiert habe, hätten "keinerlei Konsequenzen für die Beschäftigten gehab", fügte Kisseberth hinzu. Ihm seien "weder Entlassungen noch Abmahnungen bekannt".

Laut "stern" sollen die meisten Überwachungsberichte aus Lidl-Filialen in Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Berlin und Schleswig-Holstein kommen.

Aufklärung gefordert
Die Datenschützer für den nicht-öffentlichen Bereich im deutschen Bundesland Baden-Württemberg werden nach Angaben des Innenministeriums dem Fall jedoch nachgehen. "Der Sachverhalt muss aufgeklärt werden", sagte eine Ministeriumssprecherin.

Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz, Peter Schaar, sagte gegenüber dem "stern", dass das Protokollieren eines Toilettenbesuchs und Ähnliches einen schweren Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz darstelle: "Ich gehe davon aus, dass, wenn solche Vorgänge bekanntwerden, die zuständige Datenschutzbehörde tätig wird und Ermittlungen einleitet."

"In höchstem Maße skandalös"
Achim Neumann, Handelsexperte der Gewerkschaft ver.di, sagte gegenüber dem "stern", er sei zwar einiges gewohnt von Lidl, von solch einer systematischen Mitarbeiterüberwachung aber habe er noch nie gehört. "Diese Dimension ist mir völlig neu." Die Gewerkschaft forderte am Mittwoch die Mitarbeiter auf, gegen die Zustände vorzugehen und Betriebsräte zu wählen.

Der Hamburger Arbeitsrechtler Klaus Müller-Knapp, dem die Protokolle vorab gezeigt wurden, hält sie für "in höchstem Maße skandalös", weil es nicht um Arbeits-, sondern um Verhaltenskontrolle geht. "Das stellt einen klaren Verstoß gegen Artikel zwei Grundgesetz dar, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt."

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