Lange Aufarbeitung eines Konflikts

Noch in den 70er Jahren geisterte der Mythos der "Selbstausschaltung" des Parlaments durch die Köpfe.
48 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher können die autoritäre Periode vor dem Nationalsozialismus nicht einmal mehr als Faktum einordnen. Daran erinnerte vor wenigen Tagen der Zeithistoriker Oliver Rathkolb in einem Beitrag in science.ORF.at.

"Hinsichtlich der historischen Grundeinschätzung der Figur Dollfuß ist die Öffentlichkeit fast ebenso unwissend, und jene, die sich ein Urteil zutrauen, reproduzieren das gespaltene Geschichtsbild der beiden großen Parteien ÖVP und SPÖ, mit einem hauchdünnen Vorsprung für das Märtyrerimage", schreibt Rathkolb.

Am 4. März 1933 ging der Nationalrat als Folge einer Geschäftsordnungskrise (die drei Präsidenten des Nationalrates waren, um bei einer umstrittenen Abstimmung über einen Eisenbahnerstreik ihre Stimme abgeben zu können, zurückgetreten) verhandlungsunfähig auseinander.

Vorwand für den Ständestaat
Für die Regierung des christlichsozialen Kanzlers Engelbert Dollfuß, der seit 1932 mit nur einer Stimme Mehrheit regiert, wird das zum Vorwand zur Errichtung einer Diktatur, die 1934 im Bürgerkrieg mit den Sozialdemokraten und in der Errichtung des autoritären Ständestaates gipfelt.

Der Anlass für den Konflikt wirkt vergleichsweise unspektakulär: Am 1. März treten die Eisenbahner in einen zweistündigen Warnstreik gegen die verzögerte Lohnauszahlung, worauf die Regierung mit Verhaftungen und Disziplinarverfahren reagiert.

Bei einer Sondersitzung des Nationalrats fordern die Sozialdemokraten am 4. März die Rücknahme der Sanktionen und die Sicherung der Gehälter. Der Antrag wird zwar abgelehnt, ein ähnlicher Vorstoß der Großdeutschen jedoch mit 81 zu 80 Stimmen angenommen.

Panne bei der Abstimmung
Allerdings gibt es bei der Abstimmung eine Panne: Bei der Auszählung tauchen zwei Stimmzettel desselben sozialdemokratischen Abgeordneten auf, aber keiner seines Sitznachbarn, obwohl beide abgestimmt hatten.

Offenbar hat ein Mitarbeiter die vorgedruckten Stimmzettel irrtümlich vertauscht. Die Christlichsozialen bestehen daraufhin auf der Ungültigkeit der Stimme (womit die Abstimmung zugunsten der Regierung gekippt wäre). Das Präsidium ist hilflos.

Nach fast einstündiger Sitzungsunterbrechung tritt zunächst der sozialdemokratische Nationalratspräsident Karl Renner zurück - die Geschäftsordnung ließ damals nicht zu, dass der Präsident seine Mandatarstimme abgibt. Die Christsozialen durchschauen Renners Strategie: Der stellvertretende Nationalratspräsident Rudolf Ramek tritt ebenfalls zurück - Sepp Straffner vollzieht den gleichen Schritt.

Damit ist der Nationalrat handlungsunfähig: Diese Situation ist in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen, und die Abgeordneten gehen ohne Neuwahl eines Präsidiums auseinander.

Mythos "Selbstausschaltung"
Tags darauf entscheidet die christlichsoziale Parteispitze, für "einige Zeit" autoritär zu regieren. Dollfuß prägt das Schlagwort der "Selbstausschaltung" des Nationalrats. Als das Parlament am 15. März wieder zusammentreten will, werden die Abgeordneten von der Polizei am Betreten des Gebäudes gehindert.

Die Regierung Dollfuß vollzieht einen Staatsstreich auf Raten: Sie erlässt ein Versammlungsverbot, stellt die Presse unter Zensur, Ende März wird der Republikanische Schutzbund (der bewaffnete Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP)) verboten.

Am Parlament vorbei
Dollfuß regiert am Parlament vorbei, als Rechtsgrundlage dient seiner Regierung das vom Verfassungsexperten Robert Hecht reaktivierte "Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz" aus dem Jahr 1917.

Die Hoffnung der Sozialdemokraten richtet sich daher auf den Verfassungsgerichtshof, der diese scheinlegale Krücke kippen könnte. Doch auch der VfGH wird bis Ende Mai durch den Rückzug regierungsnaher Mitglieder demontiert. Als der Widerstand der Sozialdemokraten auch diesmal ausbleibt, konstatiert Dollfuß: "Das Problem des Marxismus in Österreich kann als geklärt betrachtet werden."

Gleichzeitig geht die Regierung gegen die Nationalsozialisten vor. Die NSDAP wird nach einem Handgranatenanschlag in Krems im Juni verboten. Angesichts der NS-Diktatur in Deutschland setzt Dollfuß auf ein Bündnis mit den faschistischen Heimwehren und dem italienischen Diktator Benito Mussolini.

Ankündigung des Ständestaates
Am 11. September kündigt Dollfuß auf Drängen Mussolinis die Gründung eines autoritären Ständestaates an. Die Sozialdemokraten sind in den kommenden Monaten zu weitgehenden Zugeständnissen bereit, um den bewaffneten Konflikt zu vermeiden.

So arbeitet Renner ein Staatsnotstandsgesetz aus, das weitestgehende Vollmachten für die Regierung vorsieht. Doch Dollfuß lehnt eine Zusammenarbeit mit der SDAP ab ("Wenn ich das tue, wirft mich Mussolini Hitler in den Rachen"). Auch der Versöhnungsappell des christlichsozialen Arbeiterführers Leopold Kunschak am 9. Februar bleibt ungehört.

Der Bürgerkrieg beginnt
Drei Tage später beginnt der Bürgerkrieg. Zurück bleiben 300 Tote, neun Sozialdemokraten werden standrechtlich hingerichtet.

Den Sozialdemokraten gilt Dollfuß seither als "Arbeitermörder". Doch wenige Monate und einen weiteren Bürgerkrieg später ist auch Dollfuß tot: Der Bundeskanzler wird bei einem Putschversuch der illegalen Nationalsozialisten am 25. Juli 1934 erschossen. Die darauf folgenden schweren Kämpfe zwischen Nazis und Regierungstruppen, vor allem in Kärnten und der Steiermark, fordern wieder fast 300 Tote.

Und den "Anschluss" an Deutschland kann auch Dollfuß-Nachfolger Kurt Schuschnigg nicht verhindern.

"Bewusst implantierter Mythos"
Der "bewusst implantierte Mythos" über die "Selbstausschaltung des Parlaments" sei noch in den 1970er und 1980er Jahren in den Köpfen der Menschen herumgegeistert, erinnert Rathkolb. Heute, so Rathkolb, gebe es sowohl in der historischen Wissenschaft als auch unter den Schulbuchautorinnen und -autoren der wichtigsten Mittelschullehrbücher keine Auffassungsunterschiede mehr.

Koalitionärer Streitpunkt
In der Großen Koalition war das Verhältnis zu Ständestaat und Dollfuß, gerade wegen des Dollfuß-Bildes im ÖVP-Parlamentsklubs, erst im Jänner wieder Anlass für Verbalscharmützel. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Josef Kalina riet dem Koalitions-"Partner", doch endlich das eigene Verhältnis zum Austrofaschismus zu klären. Die ÖVP warf dem SPÖ-Mann umgehend verbale "Eskalation" vor.

Zum 4. März suchte für die ÖVP der Zweite Nationalratspräsident Michael Spindelegger eine Sprachregelung zu Dollfuß und Ständestaat. Gegenüber der APA plädierte Spindelegger für eine "differenzierte Betrachtung" des Ständestaatskanzlers. Natürlich sei Dollfuß für das Ende der Demokratie in Österreich im Jahr 1933 verantwortlich gewesen, andererseits sei er aber auch ein Kämpfer gegen den Nationalsozialismus gewesen.

Das Dollfuß-Bild im ÖVP-Parlamentsklub will er daher nicht abhängen: "Ich halte nichts davon, dass man, indem man Bilder abhängt, zu einer anderen Geschichte kommt."

Für Spindelegger war Dollfuß, wie die APA schreibt, "sowohl der Arbeitermörder des Jahres 1934 als auch ein Märtyrer im Kampf gegen den Nationalsozialismus". Es sei klar, "dass er für das Ende des Parlamentarismus in Österreich gestanden ist und dafür die Verantwortung trägt, und auf der anderen Seite, dass Dollfuß ein Kämpfer gegen den Nationalsozialismus war, wie das andere Staatschefs in Europa nicht gewesen sind".

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