Seit 9/11 und dem Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh durch einen radikalen Muslim hat sich in den Feuilletons ein Streit entsponnen, in dem einander zwei Modelle gegenüberstehen: ein eher angelsächsisches Modell, das sich dem Multikulturalismus verschreibt und den verschiedenen Religionen ihren jeweils autonomen Platz einräumen möchte, und ein eher französisch-republikanisches Modell, das die Annahmen der Aufklärung für ein universelles und auf alle Kulturen und Religionen anzuwendendes Prinzip hält, also Menschenrechte, Gleichbehandlung und Humanismus abseits religiöser Bindungen durchgesetzt sehen will.
Die Protagonisten
"Perlentaucher"-Gründer Thierry Chervel hat die Kontroverse, die u. a. auf Perlentaucher.de und Signandsight.com geführt wurde, in einem Buch gesammelt.
In diesem Band stehen einander zwei Hauptlager gegenüber: auf der einen Seite Timothy Garton Ash und der Niederländer Ian Buruma, auf der anderen der französische Roland-Barthes-Schüler Pascal Bruckner und die islamkritische, türkischstämmige Soziologin Necla Kelek.
Zwei Kristallisationsfiguren
"Die Debatte wäre nicht mit solcher Leidenschaft geführt worden, gäbe es nicht die beiden außergewöhnlichen Kristallisationsfiguren, um die sie kreiste", erinnert Chervel in seinem Vorwort.
Chervel bezieht sich auf die in die Niederlande geflohene Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali (die mit Van Gogh den Kurzfilm "Submission" über die Unterdrückung der Frau im Islam gedreht hatte) auf der einen Seite und den umstrittenen Islamtheoretiker Tariq Ramadan auf der anderen.
Beide, so Chervel, "repräsentieren die Extreme der Positionen, die muslimisch geprägte Intellektuelle in Europa zum Islam einnehmen können: einerseits die Infragestellung der Religion an sich, andererseits die Behauptung, dass der Islam als solcher ohne weiteres in den Westen integrierbar sei".
Garton Ash: "Hysterische Vereinfachungen"
Garton Ash sieht die Schwierigkeiten Europas im Umgang mit seinen Muslimen geprägt von einer Kultur "hysterischer Vereinfachungen". Der Abfall von der eigenen Religion, wie ihn Hirsi Ali vorgelebt habe, ist für Garton Ash nicht das Modell für die Muslime in Europa:
"Eine Politik, die auf der Erwartung beruht, dass Millionen von Muslimen auf einen Schlag den Glauben ihrer Väter und Mütter aufgeben, ist schlicht und einfach nicht realistisch. Wenn unsere Botschaft an sie lautet, die Aufgabe ihrer Religion sei die notwendige Voraussetzung dafür, Europäer zu werden, dann werden sie sich dagegen entscheiden, Europäer zu sein."
Es wäre sinnvoll, so Garton Ash, jene Version des Islam zu unterstützen, die mit den Grundsätzen des modernen, liberalen und demokratischen Europa vereinbar ist - eine der Integrationsfiguren sei der gerade in Frankreich und den USA umstrittene Ramadan.
"Niemand verteidigt Ehrenmorde"
Buruma, bekanntgeworden durch sein Buch "Die Grenzen der Toleranz. Der Mord an Theo van Gogh", plädiert für eine Integration durch die Religion und kritisiert wie Garton Ash, dass im Zuge der Debatte über den Islam vieles zu einer "monolithischen Bedrohung verflacht" werde.
Buruma kann sich vorstellen, "bestimmte Gruppen orthodoxer Muslime zu tolerieren", selbst wenn diese Frauen "ganz bewusst" diskriminierten. "Niemand", so Buruma gegen seine Kritiker, "verteidigt Ehrenmode oder die Beschneidung von Mädchen - Strafsachen sind Sachen der Strafverfolgung." Burumas Sorge gilt eher der Frage, "wie man verhindern kann, dass gewalttätige Ideologien gemäßigte Muslime anstecken".
"Rassismus des Antirassismus"
Für Bruckner ist das von Buruma und Garton Ash eingeräumte "Recht auf Differenz" der Stein des Anstoßes. "Vom Recht auf Differenz gelangt man sehr schnell zur Differenz der Rechte", so Bruckner, der den Multikulturalismus für einen "Rassismus des Antirassismus" hält. Den Preis für die Toleranz gegenüber dem Islam müsse eine Gruppe zahlen: die Frauen.
Im Namen des lieben Friedens würden "Errungenschaften der Aufklärung" aufgegeben. Man preise die "Koexistenz kleiner, abgeschotteter Gesellschaftsgruppen, die jede für sich eine andere Norm" befolgten, wirft Bruckner Garton Ash und Buruma vor. Wenn man das gemeinsame Kriterium für die Unterscheidung von Recht und Unrecht aufgebe, werde jede "Vorstellung von nationaler Gemeinschaft untergraben".
"Musik der Kapitulation"
In der Toleranz der Multikulturalisten liege Verachtung, "denn sie unterstellt, dass einige Gemeinschaften unfähig seien zur Moderne", so Bruckner, der voller Pathos meint: "Die Aufklärung gehört dem ganzen Menschengeschlecht und nicht nur einigen Privilegierten aus Europa und Nordamerika."
Den Vertretern des Multikulturalismus unterstellt Bruckner eine "Appeasementpolitik", deren Auftreten das Symptom eines müden und von Selbstzweifeln geplagten Europas sei: "Hinter ihrer klebrigen Gutmenschenrhetorik spielt eine andere Musik: die der Kapitulation."
Kelek sieht in ihrer Replik einen ähnlichen Preis für die Toleranz wie Bruckner. Der politische Islam wolle "mit dem Kopftuch, mit der geschlechterspezifischen Trennung öffentlicher Räume die Apartheid der Geschlechter in den freien europäischen Gesellschaften etablieren".
De Moor erinnert an die eigene Geschichte
Dezidiert zwischen die Fronten begibt sich die bekannte niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor, selbst einst vehemente Verteidigerin des öffentlichen Auftretens Hirsi Alis in der "Submission"-Debatte.
De Moor erinnert ihr Heimatland, die Niederlande, daran, dass es auf dem eigenen Boden einen heftigen Religionskampf zwischen Calvinisten und Katholiken gab: "Unser Achtzigjähriger Krieg war nicht nur ein Aufstand gegen Spanien, sondern auch ein blutiger Dschihad der orthodoxen Calvinisten gegen den Katholizismus."
Letztlich hätten die Niederlande, die seit jeher vom Handel lebten, einen pragmatischen Grund für die eigene Liberalität bzw. Duldsamkeit gefunden. "Das Gesetz des Gewinns ist ein Gesetz, das nüchtern sagt: Vermeide die Konfrontation, mach Geschäfte", so De Moor. Die holländische Toleranz sei von Haus aus keine ideologische, sondern eine pragmatische.
Auch für den "Lärm um den Islam" kann De Moor nur ein pragmatisches Szenario erkennen. Der Islam werde sich nicht in Konfliktregionen wie dem Irak erneuern und modernisieren können. "Wenn der Islam überhaupt eine Reform erleben wird, (...) dann wird das in Europa sein."
"Eine kulturelle Provokation"
Die Gewalt gegen den Westen im Namen des Islam, so De Moor, "mag zwar mit einer Berufung auf dessen Lehre gerechtfertigt werden" - doch diese Gewalt sei in erster Linie eine Reaktion auf eine kulturelle Provokation, die aussehe wie Wohlstand.
"Dass der Wohlstand im Westen in gewissem Sinn ein Nebenprodukt ist, wird weniger schnell wahrgenommen", so De Moor, "da die Basis, die darunter liegende Ideologie, zu einem großen Teil durch Abwesenheit zum Ausdruck kommt: keine Zensur, keine Gefängnisse voller Dissidenten, kein mächtiges Netz amtlicher Korruption, (...) keine Angst vor Behörden und schon gar nicht vor irgendeiner Religion."
Gibt es eine "stille Revolution"?
Ramadan, der zwar heftig diskutierter Gegenstand des Bandes ist, aber nicht selbst zu Wort kommt, kultiviert in seinem letzten großen Buch ("Western Muslims and the Future of Islam", bisher nicht auf Deutsch erschienen) ähnliche Erwartungen wie De Moor quasi von der anderen Seite des religiösen Spektrums.
Ramadan spricht von einer "stillen Revolution", die muslimische Gemeinschaften im Westen im Moment durchlebten: "Mehr und mehr junge Menschen und Intellektuelle suchen aktiv nach einem Weg, in Einklang mit ihrem Glauben zu leben, während sie an der Gesellschaft teilnehmen, die auch ihre Gesellschaft ist, ob sie es nun mögen oder nicht." Ramadan ist von einer "Grassroot-Bewegung" innerhalb des westlichen Islam überzeugt, aus der eine neue "muslimische Persönlichkeit" entspringen werde.
Er spricht sich gegen die Haltung aus, die sich in der Formel "Was immer westlich ist, ist antiislamisch" zusammengefasst wird. Diese bipolare Haltung würde es gerade Muslimen erlauben, zu leicht in eine Kultur der "Andersheit" zu verfallen. Diese Haltung sei eine Illusion, und Muslime, die diese Ablehnungshaltung aufrechterhielten, würden sich selbst marginalisieren und gerade das "dominante System" stützen, "dessen Kraft darin liegt, immer offen, pluralistisch und rational zu erscheinen".
Rhetorik oder Praxis der Offenheit?
Mit solchen (An-)Sätzen mag Ramadan, nicht nur unter jungen Muslimen in Europa, viel Anerkennung finden. Seine Kritiker werden seine Formulierungen weiterhin zerpflücken. Wer von einem "dominanten System" spricht, das immer "offen, pluralistisch und rational erscheint", der könnte das auch als Unterstellung ausgelegt bekommen, dass das "dominante System" eben die behauptete Offenheit und Pluralität nicht hat (was Ramadan ja am Umgang Europas mit seinen Muslimen offen kritisiert - mehr dazu in "Europa versteht seine Muslime nicht").
Ramadans Plädoyer könnte natürlich vor allem ein strategischer Ratschlag an seine Zielgruppe sein: Nur als Teil des dominanten Systems könnt Ihr auch dessen Rhetorik der Offenheit inkorporieren. Wie "offen" man tatsächlich ist, ist am Ende, wie der Westen ja selbst täglich vorexerziert, eine Frage der Interpretation.
Gerald Heidegger, ORF.at
Buchhinweise
Thierry Chervel, Anja Seliger (Hrsg.): Islam in Europa. Eine internationale Debatte. Edition suhrkamp, 230 Seiten, 10,20 Euro.
Tariq Ramadan: Western Muslims and the Future of Islam. Oxford University Press, 275 Seiten, ca. 16 Euro.
Links:
- Suhrkamp Verlag
- Perlentaucher.de
- Ayaan Hirsi Ali (Wikipedia)
- Tariq Ramadan (Wikipedia)
- Ian Buruma (Wikipedia)
- Timothy Garton Ash (Wikipedia)
- Pascal Bruckner (Wikipedia)
- Necla Kelek (Wikipedia)
- Margriet de Moor (Wikipedia)