Zeugnisse deutscher Mentalität?

Bisher unbekannte Briefe an Adolf Hitler sind jetzt als Buch erschienen.
Über niemanden ist im 20. Jahrhundert wohl mehr geschrieben worden als über Adolf Hitler. Er dürfte auch zu jenen gehören, die am meisten Post bekamen. In der Zeit von 1934 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein waren es jedes Jahr mehr als zehntausend Briefe: Huldigungen, Glückwünsche, Treueschwüre, Liebesbekundungen.

In Moskauer Archiven verborgen
Viele davon waren bisher quasi unbekannt. Unter Staubschichten von Jahrzehnten waren in Moskauer Archiven Akten verborgen, die 1945 nach der Eroberung Berlins von Mitarbeitern der "Trophäen-Kommissionen" der Roten Armee dort erbeutet wurden.

Die Ordner mit der Bevölkerungspost wurden dann einem für die Benutzung gesperrten Spezialarchiv überlassen. Daraus stammt das Material, das jetzt der deutsche Historiker Henrik Eberle in einem Buch mit dem Titel "Briefe an Hitler" zum ersten Mal veröffentlichte.

"Jeder vertraut nur Dir"
Die Briefe konkretisieren, dass Hitler zwischen 1933 und 1940 zum "beliebtesten Staatsoberhaupt auf der Welt" wurde, wie der englische Historiker Ian Kershaw in seiner Biografie konstatiert.

1938 schickte ein "einfacher Arbeiter" in Berlin-Britz an "Ew. Exzellenz, mein Führer!" ein "Gelübde"-Gedicht. Es beginnt: "Mein Führer, wir folgen Dir,/ Wie Du befiehlst;/ Zu tun versprechen wir,/ Was Du auch willst./ Ein jeder glaubet Dir,/ Jeder vertraut nur Dir!/ Mein Führer Dir!"

Hitler, "Sohn Gottes"
In den Schreiben finden sich auch Messias-Vergleiche. Nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 schickte ein Wiener Hotelportier an Hitler ein "Glaubensbekenntnis", in dem es heißt, er glaube an Gott "und an Adolf Hitler, seinen auserwählten Sohn, den er auserkoren hat, um sein deutsches Volk von der Schlangenbrut und Otterngezücht (Juden, Pfaffen und Dynastien)" zu erlösen.

Einer Nonne, Lehrerin an einer Klosterschule, hatte es "Mein Kampf" (1925) "angetan": "Mit einem herzhaften 'Sieg Heil!'" erbat sie ein Exemplar.

Einer "deutschen Mutter" war es ein "Herzensbedürfnis", dem "lieben Führer Adolf Hitler" zu danken, "dass wir Kinderreichen wieder Wert bekommen haben". Sie legte dem Brief ein "kleines Bildchen" vom jüngsten ihrer neun Kinder bei, das immer eine Hand hochhebt, wenn es das Lied "Die Fahne hoch" hört.

Kaum Widerspruch
Die Briefe bestätigen auch, was über Hitlers "Charisma" geschrieben wurde. Der renommierte deutsche Sozialhistoriker Hans-Ulrich Wehler vermutet etwa, dass Hitler bei freien Wahlen unter Aufsicht des Völkerbundes im Winter 1938 oder im Sommer 1940 rund 95 Prozent der Stimmen erhalten hätte.

Tatsächlich war in den Briefen Widerspruch relativ selten. Erst als sich die militärische Lage Deutschlands verschlechterte, gingen immer weniger Schreiben in der Privatkanzlei Hitlers in Berlin ein.

"Unser Blut auf Ihrem Haupte"
Offener Protest war selten, aber es gab ihn, etwa in einem gegen Verbote und Diskriminierungen protestierenden Schreiben der Zeugen Jehovas: "Wenn Ihre Regierung oder Regierungsbeamte uns Gewalt antun, weil wir Gott gehorchen, dann wird unser Blut auf Ihrem Haupte sein, und Sie werden Gott dem Allmächtigen Rechenschaft geben müssen."

Unter den Forderungs- oder Bittbriefen ist auch jener des Juden Heinrich Herz, Handwerksmeister in Hamborn am Rhein, vom April 1934.

Er ist, wie er schreibt, nicht einverstanden mit der einseitigen Behandlung "von Tausenden meiner Glaubensbrüder, welche genauso deutsch fühlen und denken wie ich. Wie gern möchte ich mich am Aufbau meines lieben Vaterlandes beteiligen, wenn mir hierzu Gelegenheit gegeben wird ... Sprechen Sie ein Machtwort, dass unsere Aussichten auf eine Lebensmöglichkeit wieder möglich werden."

Buchhinweis
Henrik Eberle (Hrsg.): Briefe an Hitler. Ein Volk schreibt seinem Führer. Gustav Lübbe Verlag, 476 Seiten, 20,60 Euro.

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