Seit Jahren treibt den New Yorker Alex Ross diese Frage um - und mit seinem Blog und seinen Kritiken, etwa im "New Yorker", konnte er schon viele Leute für die "ernste" Musik begeistern, die sonst damit ihre liebe Not hatten.
The Rest Is Noise heißt das Weblog von Alex Ross. Und seit kurzem liegt unter diesem Titel eine Geschichte der Musik des 20. Jahrhunderts vor. Zehn Jahre hat Ross an seinem ersten Buch geforscht und gearbeitet. "The Rest Is Noise. Listening to the Twentieth Century" (vorerst nur auf Englisch) wurde von allen namhaften US-Zeitungen seit seinem Erscheinen Ende Oktober in die Sachbuch-Top-Ten gewählt.
Eine Kulturgeschichte - durch die Brille der Musik
Die Begeisterung der Kritiker hat ihren Grund: Ross hat nicht nur eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben - auf 600 Seiten liefert er mit enormer Leichtfüßigkeit und Bravour eine Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts durch die Brille der Musik.
"Viele Geschichten der Musik seit 1900 gehen den Weg einer teleologischen Erzählung; es ist eine zielbesessene Erzählung, die immer von großen Sprüngen vorwärts berichtet und von heroischen Schlachten gegen ein philisterhaftes Bürgertum." Diesem Anspruch würden aber stets jene Werke geopfert, die letztlich ein großes Publikum erreichten.
Ross möchte das Intellektuelle mit dem Populären versöhnen - "keine Sprache wird hier grundsätzlich als moderner als die andere gewertet". Leitfiguren für diesen Ansatz sind zwei Personen: Gustav Mahler, für Ross die Triebkraft für die intellektuelle Ausrichtung der Moderne, und Richard Strauss, der für Ross die Synthese zwischen der Neuerung und dem Populären darstellt.
Thomas Mann hilft beim Ordnen
Leitfaden auf dem Weg durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ist bei Ross allerdings kein musikalisches, sondern ein literarisches Werk. Um die Figur von Adrian Leverkühn, dem genialischen Musiker aus Thomas Manns "Doktor Faustus", ordnet Ross sein Material.
Der Kunstgriff gelingt: Wollte Mann mit der Literatur eine Geschichte des katastrophalen Weges Deutschlands im 20. Jahrhundert nachzeichnen, so schreibt Ross ein Sachbuch über Musik so, als wäre es Literatur.
Der Pakt mit dem Teufel, das ist immer wieder der Umgang der Kunst mit totalitären Tendenzen: die Verherrlichung des Krieges im Jahr 1914, die Verzahnung von Musik und Politik in Hitler-Deutschland (ein Vorgang, der bis nach Finnland zu den Arbeiten von Jean Sibelius reicht) und Stalins Durchgriffsversuche auf dem Feld der Kunst - illustriert am Schicksal von Schostakowitsch.
Vorliebe für Schönberg
Ross hat ein großes Faible für das Wien des Fin de Siecle. Ein bisschen lässt er sich dabei leiten vom US-Blick auf diese Zeit, etwa durch Carl E. Schorskes großes Wien-Buch. Eine der Lieblingsfiguren Ross' ist Arnold Schönberg.
Schönbergs Weg als Komponist, ja seine ganze Biografie steht bei Ross als Sigle für das 20. Jahrhundert. An Schönberg lässt sich die schwierige jüdische Identitätsbildung im Wien der Jahrhundertwende ebenso zeigen wie die Auseinandersetzung zwischen elitärer und breitenwirksamer Musikauffassung. Ross führt uns dabei ins Berlin der 20er Jahre und zur Konfrontation Schönberg - Weill.
Schließlich ereilt Schönberg das Schicksal vieler seiner Kollegen: der durch den Nationalsozialismus erzwungene Weg ins Exil, der erneut eine musikalische Neuorientierung notwendig machte. Im Exil in Hollywood sahen sich viele wieder nebeneinander, die im alten Europa nicht das beste Verhältnis hatten.
Graz, 1906
Die Schlüsselszene für die Spannung zwischen dem radikal Neuen auf der einen Seite und dem massentauglich Populären auf der anderen in der Musik des 20. Jahrhunderts ereignet sich für Ross relativ früh. Der Autor verortet sie an einem Maitag im Jahr 1906 im altösterreichischen Graz.
Am 16. Mai 1906 im Stadttheater von Graz war anlässlich der "Salome" von Richard Strauss alles zugegen, was in der Welt der Musik Rang und Namen hatte: die "alte" Welt der Musik in Gestalt der Witwe von Johann Strauß und von Giacomo Puccini, die Zeitgenossenschaft von Strauss, etwa in Gestalt von Gustav Mahler, und schließlich die radikalen Erneuerer, personifiziert durch den jungen Arnold Schönberg.
Strauss, der an diesem Abend selbst dirigierte, habe sich, so Ross, bei der "Salome" als Meister erwiesen, dem Publikum uner- bzw. ungehört Neues zu liefern und es zugleich in dem Gefühl zu belassen, dass doch gar nichts Schlimmes passiert sei.
Wie ein Blitzschlag
"Es hätte eines der Ereignisse in einem geschäftigen Jahr sein können", schreibt Ross über die "Salome"-Aufführung. Doch "es war wie ein Blitzschlag, der das Licht auf die musikalische Welt an der Schwelle traumatischer Veränderungen warf".
Strauss wurde selbst vom deutschen Kaiser prophezeit, dass ihm seine "Salome" noch viele Probleme einhandeln werde, ein Umstand, den Strauss nur mit einem Lächeln quittieren konnte: Von den vorgeblichen "Problemen" mit der "Salome" habe er sich immerhin eine Villa in Garmisch bauen können. Strauss hatte die Gabe, das Neue mit dem Breitenwirksamen zu vereinen.
"Sich selbst überlebt": Strauss und Sibelius
Strauss ist auch aus einem anderen Grund für Ross eine Ikone der (Musik-)Geschichte des 20. Jahrhunderts: Eine apolitische Musik scheint in diesem Jahrhundert eigentlich nicht möglich. Auch Strauss würde später seinen Satz über Hitler - "wenigstens ein Reichskanzler, der sich für Kunst interessiert" - in anderem Licht sehen.
Strauss und Jean Sibelius stehen bei Ross paradigmatisch für zwei Musikertypen, die den totalitären Systemen bedenklich nahe gekommen waren. Für beide stand in der Nachkriegszeit das Fazit, dass sie sich selbst, nicht nur ästhetisch, "überlebt" hatten.
Der Verdacht gegen das Populäre
Der Zweite Weltkrieg bzw. die Verzahnung von Musik und totalitären Systemen hatte laut Ross fundamentale Folgen für die Musik der Gegenwart. Das Populäre bzw. Massentaugliche kam unter Generalverdacht. Einmal mehr ist Schönberg eine Schlüsselfigur in diesem Prozess.
Adorno oder Kritiker wie Clement Greenberg stemmten sich vehement und mit dem Brustton moralischer Überzeugung gegen den Neoklassizismus eines Strawinsky, gegen die Tonalität und sahen Schönberg als Garant für eine von Totalitarismen befreite Auffassung von Musik.
Kompositionen wie jene des Amerikaners Aaron Copland, der im Jahr des Kriegsendes den Pulitzer Preis für "Apalachian Spring" bekam, wurden von der nach einer neuen Avantgarde suchenden Kritik als Machwerke abgetan, die auch auf dem Plattenteller jedes stalinistischen Intellektuellen liegen könnten (Adorno).
Spielarten der Avantgarde: Boulez und Cage
Ross widmet sich mit großer Hingabe für die Musik nach 1945 den Leitfiguren Pierre Boulez und John Cage. Beide verkörpern für ihn die zentralen Spielarten der Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg. Boulez in seiner Auseinandersetzung mit seinem "Lehrer" Olivier Messiaen steht dabei für den europäischen Zweig der Avantgarde; Cage für die amerikanische Spielart.
Der Unterschied zwischen den beiden
sollte schon in der Zusammensetzung des Publikums liegen. Während Cage am Anfang seiner Karriere ausschließlich intellektuelle Grenzgänger erreichte, adressierte Boulez mit seinen Werken immer noch ein vornehmlich bürgerliches Publikum.
"SCHÖNBERG IST TOT"
Boulez ist für Ross auch Überwinder des Schönberg-Paradigmas in der Musik. Als Schönberg 1951 starb, schreib Boulez in einem Nachruf in Versalien: "SCHÖNBERG IST TOT." Für den jungen, ungeduldigen Boulez war Schönberg letztlich ein Nachlassverwalter eines "obsoleten" Romantizismus in der Musik. Schönberg, so Boulez in seinem Nachruf, habe zwar die Kunst der Harmonie revolutioniert, aber Rhythmus, Struktur und Form der Musik nicht angerührt. An diese Arbeit wollte sich der junge Franzose fortan machen, um dabei auch seinen Lehrer Messiaen weit hinter sich zu lassen.
Genau hinhören
Ross führt in seinem Buch an die extremen Grenzen in der Musik des 20. Jahrhunderts, wobei deutlich wird, dass seine Heroen letztlich die Verteidiger der Tonalität sind. Figuren wie Karl-Heinz Stockhausen bekommen bei Ross schon auch ausführlich ihren Platz eingeräumt. Letztlich erscheinen sie vor den musikalischen Titanen des Jahrhunderts aber wie obskurantistische Spinner.
Die Avantgarde hilft Ross vor allem beim Nachdenken über die Musik und das Verhältnis von Musik und Gesellschaft. So borgt Ross von John Cage Inspiration und Motto für sein Buch. "Wo immer wir sind, ist es Lärm, den wir meistens hören. Wenn wir ihn ignorieren, dann stört er uns, wenn wir genau hinhören, dann fasziniert er uns", heißt es in John Cages "Silence".
Aus dem scheinbaren Lärm lässt sich nicht nur Musik, sondern die ganze Befindlichkeit einer Kultur herausfiltern. Wer sich auf diesen Weg der Kulturgeschichtsschreibung einlässt, für den ist der Sprung von Schönberg zu den Arbeiten von Aphex Twin ein kleiner. Nach der Lektüre dieses Buches klingt nicht zuletzt die Gegenwart wieder neu.
Gerald Heidegger, ORF.at
Buchhinweis
Alex Ross: The Rest Is Noise. Listening to the Twentieth Century. Farrar Straus & Giroux, 600 Seiten, ca. 20,50 Euro.
Links:
- The Rest Is Noise (Alex Ross' Blog)
- Audiofiles zum Buch
- Wo Thomas Mann schummelte (ORF.at)