Oscar Niemeyer ist 100

Der brasilianische "Architektur-Papst" realisierte mehr als 600 Projekte.
Ruhestand bleibt für Oscar Niemeyer auch rund um seinen 100. Geburtstag am 15. Dezember ein Fremdwort. "Er hat keine freie Minute. Bis Jahresende ist er wegen der vielen Arbeit, der Würdigungen und sonstigen Verpflichtungen ausgebucht", sagte Vera Lucia Cabreira (61), Ehefrau und Sekretärin des brasilianischen Stararchitekten.

Es sei ein Wunder, dass er sich einen Tag freigenommen habe, um den Geburtstag im kleinen Freundeskreis zu feiern. "Arbeiten hält jung, und Älterwerden ist Scheiße", sagte Niemeyer schon vor Jahren in einem Interview.

Ständig neue Projekte
Der "Herr der Kurven" ist nach 70 Arbeitsjahren und mehr als 600 realisierten Projekten immer noch voller Pläne und Tatendrang. "Das wird das wichtigste Werk meines Lebens", sagte er erst vor wenigen Tagen, als sein Projekt für das größte Kulturzentrum Spaniens in Aviles grünes Licht bekam.

Außerdem soll er demnächst den Regierungspalast Planalto in Brasilia renovieren, ein Kulturzentrum in Kasachstan planen und das neue Regierungszentrum des brasilianischen Bundeslandes Minas Gerais bauen.

"Habe sehr viel Arbeit"
"Ich habe sehr viel Arbeit. Angola will mich mit der Planung der neuen Hauptstadt beauftragen, die viermal so groß wie Brasilia wird. Das wird 16 Jahre dauern, aber vielleicht schaffen wir das schneller", sagte der Architekt vor kurzem in einem seiner seltenen Interviews im britischen "Guardian".

Immer noch fährt Niemeyer jeden Tag von seiner Wohnung in Ipanema zum Atelier in einem Art-Deco-Gebäude in Copacabana mit Blick auf den Zuckerhut und den sichelförmigen Strand, wo er von 9.00 bis 21.00 Uhr sieben Tage pro Woche arbeitet und auch Freunde zu einem Glas Wein empfängt.

Die Berge Rios in den Augen
Der Mann, der die gerade Linie verabscheut und laut Le Corbusier die Berge Rios in den Augen hat, wurde als eines von sechs Kindern eines deutschstämmigen Kaufmanns in Rio geboren. Nach dem Studium der Architektur begann durch die Zusammenarbeit mit seinen Vorbildern Lucio Costa und Le Corbusier der Aufstieg.

Nachdem er mit dem alten Gesundheitsministerium in Rio (1943) internationales Renommee erlangte, entwarf er 1947 das UNO-Gebäude in New York. Ende der 50er arbeitete er mit Costa an der Reißbrett-Hauptstadt Brasilia.

Während der Militärdiktatur (1964-1985) arbeitete Niemeyer im Exil weiter, er baute in Israel, Algerien, Frankreich und der vom Erdbeben (1972) und Bürgerkrieg zerstörten Hauptstadt Nicaraguas, Managua.

"In der Luft gezeichnet"
Die Architektur habe für ihn stets mit dem Zeichnen begonnen: "Als ich klein war, habe ich laut meiner Mutter mit den Fingern in der Luft gezeichnet. Aber ich brauchte einen Stift. Sobald ich einen halten konnte, habe ich täglich gezeichnet."

Sobald er sich das Areal für ein Bauprojekt angesehen und über Budget und technische Fragen nachgedacht habe, so Niemeyer, "kommen die Zeichnungen sehr schnell": "Ich nehme den Stift. Er fließt. Ein Gebäude erscheint. Das ist es. Mehr gibt es nicht zu sagen."

"Kunde interessiert mich einen Dreck"
Architektur dürfe nicht nur funktionell sein, sondern auch "schön, kreativ und fantasieanregend". Diese Haltung - und Sager wie "Der Kunde interessiert mich einen Dreck" - brachte ihm nicht nur Bewunderer ein. Kritiker bemängeln, dass Niemeyers Bauten den Bedürfnissen der Menschen nicht gerecht werden. Ihm wurde eine seelenlose Bauweise vorgeworfen.

Walter Gropius habe ihn einmal in seinem Haus in Canoas über Rio besucht, dessen Kurven fließend in die Geografie der Umgebung übergehen, so Niemeyer. "Er sagte, es sei hübsch, aber ungeeignet für die Massenproduktion. Als ob ich das jemals so geplant hätte! So ein Idiot."

Utopie gescheitert
Auch an Brasilia scheiden sich die Geister. Beim Bau der Retortenstadt hätten "JK" - der damalige Staatspräsident Juscelino Kubitschek, der die Retortenstadt in Auftrag gegeben hatte -, die Architekten und die Bauarbeiter in denselben Bars getrunken.

"Es schien, als wäre eine neue Gesellschaft ohne die alten gesellschaftlichen Schranken geboren. Es hat nicht funktioniert", sagt Niemeyer heute. Die Stadt sei zu groß und werde von Bauunternehmern beherrscht.

Tatsächlich ist Niemeyers Wunsch nach einer Durchmischung der Bevölkerungsschichten gescheitert. Die Stadt selbst ist ein Paradies für den Mittelstand, die Armen wurden in die Vororte gedrängt. "Brasilia gehört gestoppt", lautet der radikale Vorschlag des Architekten.

Castro im Schlafzimmer
Obwohl seine sozialen Utopien gescheitert sind, ist Niemeyer nach wie vor überzeugter Kommunist. "Fidel hat mich einmal hier besucht, spätnachts, und der Aufzug fiel aus", erzählt Niemeyer im "Guardian" über seine Freundschaft zum kubanischen Staatspräsidenten Fidel Castro.

"Also habe ich beim Nachbarn geklingelt und gefragt, ob mein Freund durch seine Wohnung kommen könnte. Er trug Pyjamas und war wohl etwas überrascht, als plötzlich vier riesige Bodyguards und dann Castro durch sein Schlafzimmer gingen. Fidel hat ihm eine Zigarre geschenkt."

Geheime Heirat
Stillstand kennt Niemeyer auch im hohen Alter nicht. Nachdem er nach 76 Ehejahren mit Annita Niemeyer 2004 Witwer wurde, heiratete er 2006 seine langjährige Sekretärin - ohne der Familie Bescheid zu sagen.

"Ich habe zu wenig in meinem Leben gemacht. Das Leben ist zu kurz, nur ein Hauch." Der 100. Geburtstag bedeute für ihn nichts, sagte er einer Zeitung. Er fühle sich heute nicht älter als 60 und könne praktisch alles machen. Sein "Rezept" seien "Bescheidenheit und Toleranz".

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