Zeit- und Fernreisen

Eine Auswahl an Romanen der Saison.
Ein reichhaltiges Potpourri an Romanen bietet sich dieses Jahr für den Gabentisch an. Zeitreisen und Fernreisen führen nach Alaska und in die Nachkriegszeit.

Verschwörung in Alaska
Mit "Waffenwetter" präsentiert der deutsche Vielschreiber Dietmar Dath einen Roman über Herkunft und Sehnsucht, Familie und Liebschaft, Verschwörung und Fakten. Eine Reise führt die Maturantin Claudia Stark gemeinsam mit ihrem kommunistischen Großvater nach Alaska, wo sie das von Verschwörungstheorien umrankte HAARP-Projekt besuchen.

Hinter tagebuchartigen Einträgen des Mädchens wird eine Geschichte sichtbar, die dem Leser in ihrer erzählerischen Differenziertheit den Atem raubt. Nicht das Offensichtliche ist die Spur, die durch den Roman führt. Kleine Andeutungen führen die Geschichte subkutan weiter und eröffnen eine neue, eigene Dimension.

Wie immer bei Dath kommen auch popkulturelle Anspielungen nicht zu kurz. So erinnert vor allem der letzte, sehr actionlastige Teil des Buches an die von Dath heiß geliebte Serie "Alias".

Dietmar Dath: Waffenwetter. Suhrkamp, 288 Seiten, 18,30 Euro.

A. L. Kennedys Hunde des Krieges
Der junge Alfred Day meldet sich 1943 zur britischen Armee, um seinem tristen Zuhause und dem gewalttätigen Vater zu entkommen. In der Air Force sucht der 15-Jährige Anerkennung, eine Aufgabe, eine Ersatzfamilie - und findet sie. Auch eine Romanze mit der jungen Joyce bahnt sich an. Doch Days Maschine wird abgeschossen, er gerät in Gefangenschaft.

Nach einem kurzen Besuch in London reist Day vier Jahre nach Kriegsende zurück nach Deutschland, um als Statist in einem Film über britische Kriegsgefangene mitzuwirken, der sein kaum vernarbtes Trauma wieder aufreißt.

Die schottische Autorin A. L. Kennedy, Expertin für Schmerz, Depression und abseitige Liebesgeschichten, schildert die Leere, die ihren Helden nach den Gräueln des Krieges weiter leiden lässt, bruchstückhaft und mit abrupten Perspektivenwechseln. Das macht die Lektüre oft schwierig, ist aber direkter Ausdruck der Zerrissenheit und Hoffnungslosigkeit, die der Krieg bei dem Soldaten Alfred Day hinterlassen hat, dessen einzige Heimat der Krieg selbst war.

A. L. Kennedy: Day. Wagenbach, 349 Seiten, 23,60 Euro.

Der dänisch-deutsche "Idiot"
Knud Romer kennen einige vielleicht als Schauspieler aus Lars von Triers Dogma-Meisterwerk "Idioten". In seiner Heimat war der dänische Autor bisher vor allem als Werbeguru bekannt - nun aber lieferte er mit seinem literarischen Erstlingswerk einen veritablen Skandal.

Denn er rührt an ein längst nicht aufgearbeitetes Kapitel dänischer Geschichte: die Deutschen-Feindlichkeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Schonungslos und dennoch nicht ohne Witz erzählt der 47-Jährige die Geschichte seiner Familie über drei Generationen, wobei er sich dezidiert nicht ganz an die Wahrheit hält.

Seine Mutter war Deutsche, heiratete einen Dänen und wurde fortan in dessen Dorf rigoros ausgegrenzt. Der kleine Knud musste sich in der Schule von Kameraden quälen lassen. Romer erspart dem Leser die totale Tristesse und schreibt aus einem ironisch-subersiven Blickwinkel. Fazit: neues Thema, unverbrauchte Bilder, spannende Geschichte.

Knud Romer: Wer blinzelt, hat Angst vor dem Tod. Insel, 169 Seiten, 17,30 Euro.

Satirische Science-Fiction
Nobelpreisträger Jose Saramago bedient sich der immer gleichen Masche: Ein Land wird von einem seltsamen Naturereignis heimgesucht. Wie gehen die Medien, die Politiker, die Kirche, die Philosophen und nicht zuletzt die Bürger im Alltag damit um?

Nicht alle Ideen des Portugiesen sind es Wert, durchgesponnen zu werden, die hier nun vorliegende schon: In "Eine Zeit ohne Tod" beschreibt Saramago eine Gesellschaft im Hier und Jetzt mitten in Europa, der - zunächst ohne jeden erkennbaren Grund - das ewige Leben geschenkt wird.

Allerdings siechen jene, die sonst gestorben wären, sterbenskrank vor sich hin. Die Regierung sucht gemeinsam mit der Mafia nach Auswegen, die Intellektuellen schwafeln ratlos vor sich hin, die Familien greifen zu drastischer Selbsthilfe. Saramago ist eine unterhaltsame, bitterböse Satire auf die Angst vor einer Überalterung der Gesellschaft gelungen.

Jose Saramago: Eine Zeit ohne Tod. Rowohlt, 253 Seiten, 20,50 Euro.

Lebenskünstler und Liebesleid
"Divisadero" gilt als bisher größtes Werk des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje. Erzählt wird das verwobene Schicksal dreier Waisenkinder, die miteinander aufgewachsen sind, in fragmentarischen Rückblenden.

Die verwickelte Struktur des Romans wurde von der "Frankfurter Rundschau" als "postmoderne Virtuosität" gefeiert, die "Neue Zürcher Zeitung" nannte das Buch "vollkommen" und bezeichnete es als "poetisches Vermächtnis" Ondaatjes.

Anna, Claire und Cooper werden aufgrund einer verbotenen Liebe auseinandergerissen, ihre Lebenswege trennen sich. Cooper wird Profipokerspieler, Anna zieht in den Süden Frankreichs, Claire bleibt in der Gegend. Die Geschichte über Lebenskünstler und Liebesleid besticht nicht zuletzt durch traumartige, schöne Szenen nahe am Kitsch.

Michael Ondaatje: Divisadero. Hanser, 280 Seiten, 22,10 Euro.

Den Tod bannen
Einmal mehr setzt sich Josef Winkler in seinem neuen Roman "Roppongi" mit dem Tod auseinander, diesmal vielleicht noch unmittelbarer als sonst. Der Kärntner Autor berichtet über die Umstände des Ablebens seines Vaters und nähert sich in konzentrischen Kreisen dem Kern der schwierigen Vater-Sohn-Beziehung.

Es ist bezeichnend, dass er sich, als er vom Tod des 99-Jährigen erfährt, am anderen Ende der Welt befindet: im Tokioter Stadtteil Roppongi. Von dort ausgehend setzt er zu einer "sanftmütigen Vaterbeschimpfung" ("Zeit") an. In farbenfrohen Bildern wird aber auch der Umgang mit dem Tod in Asien und Österreich miteinander verglichen.

Zahlreiche Rezensenten zeigten sich von Winklers jüngstem Werk angetan. So schrieb etwa die "Neue Zürcher Zeitung": Hier heiße Literatur, den Tod zu bannen. In der "Zeit" war von einer "verspielt-ironischen, sachlich-originellen" Herangehensweise die Rede.

Josef Winkler: Roppongi. Suhrkamp, 160 Seiten, 17,30 Euro.

Moderne Mythensammlung
Mehr als dreißig internationale Verlage haben ein umfangreiches Projekt begonnen: Die Mythen der Menschheitsgeschichte aus heutiger Sicht von renommierten zeitgenössischen Autoren neu erzählen zu lassen.

Der Deutsche Taschenbuch Verlag hat nun auf Deutsch die ersten Bände der losen Serie in Taschenbuchformat herausgebracht. Wohlfeil und im Paket sind fünf moderne Versionen verschiedenster Mythen zu erstehen, verfasst unter anderen von Margaret Atwood, Viktor Pelewin und Jeanette Winterson.

Die Ansätze der Schriftsteller unterscheiden sich grundsätzlich - eine abwechslungsreiche Lektüre ist garantiert. Begleitend dazu erschien Karen Armstrongs im englischsprachigen Raum viel diskutiertes Buch "Eine kurze Geschichte des Mythos".

Karen Armstrong: Eine kurze Geschichte des Mythos. dtv, 141 Seiten, 8,80 Euro.

Viktor Pelewin: Der Schreckenshelm. Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus. dtv, 187 Seiten, 8,80 Euro.

Jeanette Winterson: Die Last der Welt. Der Mythos von Atlas und Herkules. dtv, 110 Seiten, 8,80 Euro.

David Grossmann: Löwenhonig. Der Mythos von Samson. dtv, 126 Seiten, 8,80 Euro.

Margaret Atwood: Die Penelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus. dtv, 173 Seiten, 8,80 Euro.

Alexander McCall Smith: Der Gott der Träume. Der Mythos von Angus. dtv, 143 Seiten, 8,80 Euro.

Manns "Doktor Faustus" erstmals kommentiert
Thomas Mann war sich nach seiner Flucht vor den Nazis in den USA sicher: Sein letztes großes Romanwerk würde der "Doktor Faustus" sein. Vier Jahre schrieb Mann an diesem Werk rund um den genialischen Musiker Adrian Leverkühn, der zur Steigerung seiner Kunstfertigkeit einen Pakt mit dem Teufel eingeht.

Herausgekommen ist eine erklärungsbedürftige Großkomposition: Faust-Mythos, Künstlerroman, Gesellschaftspanorama über den Aufstieg des Nationalsozialismus aus dem Geist der Romantik, kunsttheoretischer Essay und schließlich Musik, umgelegt zum Sprachkunstwerk.

Bei S. Fischer ist nun der "Doktor Faustus" erstmals in kommentierter Version erschienen. Und das bedeutet im konkreten Fall: Aus dem Textband mit 742 Seiten ist ein Werk von mehr als 2.000 Seiten geworden, denn der Kommentarband, der alles Wissenswerte zu diesem Buch bieten möchte, ist satte 1.266 Seiten stark.

Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Herausgegeben und kommentiert von Ruprecht Wimmer unter Mitarbeit von Stephan Stachorski. S. Fischer, Textband, 741 Seiten, 42 Euro. Kommentarband, 1.226 Seiten, 50 Euro. Zusammen als Kassette 84 Euro.

Dusls Punschkrapferl
Andrea Maria Dusl gilt als Journalistin ("Falter"), Autorin und Regiseurin seit langem als genaue Beobachterin heimischer Befindlichkeiten. Nun hat sie Texte aus den letzten zwanzig Jahren zusammengefasst, um "Die österreichische Oberfläche" ordentlich anzukratzen.

So hat Dusl als Aufdeckerjournalistin herausgefunden, dass die Landesfarben mitnichten Rot-Weiß-Rot sind, sondern Rosa. Als Argumente führt sie an: Aida-Kellnerinnen, Extrawurst, den Führerschein und die Mannerschnitten.

Narzisstische Neurosen wie das Ego-Googeln werden ebenso analysiert wie eine perfekte Antwort auf die urwienerische Frage "Tschulligen, stegen Sie os?" gefunden: "Man wird sehen." All das kommt gut portioniert in witzreichen literarische Happen daher, die außen rosa sind, es aber in sich haben - wie die Punschkrapfen.

Andrea Maria Dusl: Die österreichische Oberfläche. Residenz, 240 Seiten, 19,90 Euro.