Einblicke ins Rotlichtviertel

Walter Sickert und seine "Camden Town Nudes".
War Jack the Ripper ein Maler? Diese Frage taucht immer wieder auf, wenn das Werk des in Deutschland geborenen britischen Malers Walter Sickert (1860-1942) gezeigt wird.

Mit seinen schonungslos realistischen, schmutzigen Bildern von nackten Prostituierten und schäbigen Absteigen im Londoner Rotlichtviertel Camden Town provozierte er nach der Jahrhundertwende die britische Kunstszene.

Eine Ausstellung im Courtauld Institute in London zeigt jetzt jene Bilder, die den Verdacht, Sickert könnte der berüchtigte Massenmörder gewesen sein, besonders anheizten.

"Furchtbares Doppelleben"
Dass der Maler mit den Morden in Verbindung stand, vermuteten Ripper-Forscher schon in den 70ern. Dass er selbst der Täter sei, brachte die US-Krimiautorin Patricia Cornwell erstmals vor fünf Jahren aufs Tapet. Sie beharrt darauf, dass Sickert ein "furchtbares Doppelleben" geführt habe: "Tagsüber hat er gemalt, nachts hat er gemordet."

Um ihre These zu untermauern, scheute sie keine Kosten und Mühen. Unter anderem gab sie Millionen aus, um Sickert-Gemälde zu kaufen, die sie dann auf DNA-Spuren untersuchen ließ. Ernsthafte Kriminologen halten von Cornwells Theorie jedoch wenig.

Des Rippers Schlafzimmer
Fix ist, dass Sickert vom Ripper-Fall besonders fasziniert war. Aufgrund von Berichten seiner Vermieterin vermutete er, im selben Haus wie der tatsächliche Täter zu wohnen und dessen Identität zu kennen. Es gibt sogar ein Sickert-Bild, das "Jack the Ripper's Bedroom" zeigt.

"Geistlose" Akte
Abgesehen davon ist Sickerts in London ausgestelltes Werk nicht unbedingt mörderisch, sondern vor allem provokant. Die klassisch inspirierten, "ästhetischen" Aktbilder seiner Zeitgenossen bezeichnete der Maler als "geistlos" und "künstlerischen und intellektuellen Bankrott", und er antwortete mit schonungslosem Realismus.

"Wir mögen gute Morde"
Als er nach einem Frankreich-Aufenthalt nach London zurückkehrte, zog er bewusst in die schäbige Sexarbeiter-Hochburg Camden Town. Prostitution, Straßenalltag und die Massenunterhaltung in den Music Halls faszinierten ihn - und natürlich Kriminalität.

"Es wird behauptet, dass wir eine große Literaturnation sind, aber wir interessieren uns gar nicht wirklich für Literatur. Wir mögen gute Morde", sagte er selbst einmal.

Mord in Camden Town
Zu seinen berühmtesten Arbeiten zählt eine Serie über den "Camden Town Murder", ein aufsehenerregendes Verbrechen im Jahr 1907, das Sickert besonders faszinierte.

Emily Dimmock wurde am 12. September 1907 tot in ihrer Wohnung gefunden. Die Kellnerin besserte sich als Prostituierte das Haushaltsgeld auf - ohne das Wissen ihres Lebensgefährten, der Nachtschichten beim Eisenbahnbau schob. Ihr Mörder war ein Kunde, der Sex mit ihr hatte und ihr anschließend im Schlaf die Kehle aufschlitzte. Der Fall wurde von Boulevardblättern monatelang verfolgt und zur blutigen Groteske verzerrt.

Mehrdeutige Motive
Sickerts Bilder zeigen hingegen die ganze Tragik und auch die soziale Komponente des Falls. Der Exzentriker malte den Mord in mehreren Versionen. Manchmal titelte er das Bild aber anders: "What Shall We Do for the Rent?", also etwa "Wie sollen wir die Miete beschaffen?"

So spielte er mit der Wahrnehmung seines Motivs. Die liegende Frauenleiche könnte einfach eine Schlafende sein, der Mörder ihr über sie gebeugter, sich sorgender Ehemann.

Anti-Pin-ups
Auch die weiteren "Camden Town Nudes" sind keine plakativen Pin-ups. Sickert malt in zurückgenommenen Pastellfarben, er interessiert sich mehr für die schmutzigen Absteigen und die heruntergekommene Atmosphäre. Die nackten Frauenfiguren bleiben anonym und ungreifbar.

Die aktuelle Ausstellung in London umfasst nur 27 Gemälde aus den Jahren 1905 bis 1912, also der Zeit rund um den Camden-Town-Mord, doch gerade dieser enge Fokus trägt nach Ansicht der Kritiker zur hohen Qualität bei. Für den "Daily Telegraph" gehört die Schau schon zu den besten des Jahres.

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