Apotheker "packte aus"
Padre Pio soll neben der Säure auch eine vielfach tödliche Menge des Nervengifts Veratrin, das gegen Schmerz unempfindlich macht, bei einem streng katholischen Apotheker bestellt und dabei "um höchste Geheimhaltung gebeten" haben, schreibt der Historiker Sergio Luzzatto in seinem neuen Buch "Padre Pio. Miracoli e politica nell'Italia del Novecento" ("Padre Pio. Wunder und Politik im Italien des 20. Jahrhunderts").
Der Apotheker aus Foggia erstattete seinem Bischof allerdings Bericht von den verdächtigen Einkäufen. Der 44-jährige Turiner Geschichtsdozent entdeckte das Apothekerschreiben schließlich in den Archiven des Vatikans.
Mysteriöser Veilchenduft
Für nichts war Padre Pio so berühmt wie für seine nacherlebten Wundmale Christi. Pio blutete an den Händen, den Füßen und am Thorax. Zeugen berichten vom Duft, der von den Wunden ausging.
Für Luzzatto sieht das so aus: "Statt Veilchenduft, dem Aroma der Heiligkeit, scheint sich von der Zelle des Heiligen die Ausdünstung von Säure und Gift, der Gestank der Schwindelei, verbreitet zu haben."
Protest gegen "Diffamierung"
Die Enthüllung sorgt für Unruhe in der katholischen Welt. Der Kapuzinerorden erklärte, Pio sei in seinem Konvent auch für medizinische Dienste zuständig gewesen und habe das hochgiftige und ätzende Phenol zur Desinfektion von Spritzen benutzt.
Die Katholische Liga, eine US-Organisation, die sich gegen die Diffamierung von Katholiken in der Öffentlichkeit einsetzt, protestierte laut "Spiegel" gegen die "tendenziöse und diskriminierende Pseudowissenschaft" des Historikers - nicht ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Luzzatto Jude ist.
Die Aufgabe des Historikers
Gegenüber Radio Vatikan sagte Luzzatto, Urteile stünden dem Historiker nicht zu: "Das ist das erste Buch über Padre Pio, das von einem Historiker geschrieben wurde. Der Historiker soll nicht ergründen, ob Padre Pio wirklich Stigmata hatte oder wirklich Wunder vollbracht hat. Der Historiker muss verstehen, unter welchen Bedingungen Padre Pio glauben konnte, er habe Stigmata empfangen, und unter welchen Umständen eine solche enorme Verehrung zustande kommen konnte."
Auch Papst hatte Bedenken
Dabei kann sich Luzzatto in Sachen Pio-Skepsis in eine Reihe mit Pios Zeitgenosse Papst Johannes XXIII. stellen: "Seine falschen Beziehungen zu den Gläubigen richten ein Unheil in den Seelen an", notierte das Kirchenoberhaupt im Juni 1960.
Er hoffe nur, dass die Vorsehung dem Spuk bald ein Ende bereiten werde, bringt Luzzatto bisher unbekannte Zitate von Johannes XXIII. Auch von "intimen und unanständigen Beziehungen mit den Frauen, die seine Prätorianergarde bildeten", ist aus päpstlicher Feder zu lesen.
Heiligsprechung im Eilverfahren
Doch die Anhängerschaft des wundersamen Kapuzinermönchs wuchs auch nach seinem Tod 1968 immer weiter. 1999 sprach Johannes Paul II. Pio selig und 2002 im Eilverfahren heilig - trotz aller Bedenken seines Vorgängers und Namensvetters Johannes XXIII.
Links: