Kraftfeld Körper

Wilhelm Reich gilt als Begründer der körperorientierten Psychotherapie.
Verehrt, verachtet, verfolgt, verlacht und schließlich das Idol einer ganzen Studentengeneration: Zehn Jahre nach seinem Herztod in einem amerikanischen Gefängnis am 3. November 1957 wurde der Psychoanalytiker Wilhelm Reich von der europäischen Studentenbewegung der späten 60er Jahre zum Vordenker gekürt.

Adorno, so witzelt man, habe seinen Herzinfarkt quasi Reich zu verdanken: Ohne Reich kein "Busenattentat" gegen den Oberästheten vom Frankfurter Institut für Sozialforschung. Und ohne die oben ohne erschienen Studentinnen hätte Adorno seinen drauf folgenden Urlaub in der Schweiz vielleicht überlebt.

Freuds Schüler
Wilhelm Reich war Schüler Sigmund Freuds und gilt als Begründer der körperorientierten Psychotherapie. Der Wissenschaftler war aber zeitlebens umstritten und machte sich nicht nur Freunde: Er überwarf sich mit Freud, wurde aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen, verließ wegen der Nationalsozialisten Wien und später Deutschland und landete - über Norwegen - in den USA, wo er schließlich wegen einer Erfindung, des Orgon-Akkumulators, im Gefängnis endete.

Der Reich-Kanon in der WG
Reichs Texte wie "Die Funktion des Orgasmus" und "Der triebhafte Charakter" waren in der Stundentenbewegung neben Marx und Marcuse fester Lektürebestand so mancher Wohngemeinschaft. Der deutsche Verlag Zweitausendeins, der noch ein wenig den Hauch der 68er-Bewegung zelebriert, bot bis vor kurzem Reichs Werke zum Sonderpreis in einer Spezialausgabe an.

Von solchen Hypes abgesehen ist es um Reich seit Mitte der 70er Jahre eher still geworden. Ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erinnern Wissenschaftler in aller Welt in diesen Tagen an den Mann, der zu den umstrittensten seines Faches gehörte und dessen grundlegende Arbeiten im Bereich der Psychoanalyse dennoch bis heute Gültigkeit behalten haben.

"Abgleiten in die Esoterik"
"Leider ist durch Reichs Abgleiten in den Bereich der Esoterik in seinem letzten Lebensjahrzehnt sein Beitrag für die Psychoanalyse in Vergessenheit geraten", meint Alfred Pritz, Rektor der Wiener Sigmund-Freud-Privatuniversität für Psychotherapie.

"Der frühe Reich war eigentlich exzellent und fast schon genial. Ob man es mag oder nicht, Arbeiten wie 'Die Funktion des Orgasmus' haben heute nach wie vor Gültigkeit. Die Bedeutung der orgastischen Sexualität ist und bleibt wichtig."

Dienst in der k. u. k. Armee
Reich wurde am 24. März 1897 als Sohn eines assimilierten jüdischen Gutsbesitzers in Galizien, also auf dem Gebiet der ehemaligen k. u. k. Monarchie, geboren. Der jugendliche Reich übernahm nach dem frühen Tod seiner Eltern zu Beginn des Ersten Weltkrieges die Leitung des elterlichen Hofs, musste aber 1915 vor den Russen fliehen und trat in die k. u. k. Armee ein.

Studium in Wien
Nach dem Krieg begann er in Wien ein Medizinstudium und zeigte hier wachsendes Interesse an Sigmund Freuds Lehre von der Psychoanalyse. Reich zeichnete sich derart aus, dass er bereits mit 23 Jahren in die Wiener Psychoanalytische Gesellschaft aufgenommen wurde. Bereits mit 22 durfte er als Analytiker praktizieren.

Im Kreis um Freud, zu dessen engsten Mitarbeitern er über zehn Jahre lang gehörte, verfasste er Grundlagentexte zur psychoanalytischen Theorie, mit denen er sich allerdings zunehmend von Freud entfernte. Begriffe wie Orgasmustheorie, Sexualpolitik (Sexpol) und Vegetotherapie sind eng mit seinem Namen verbunden. Neben Freud ist Reich der Wissenschaftler, der die meisten Texte zur Psychoanalyse veröffentlicht hat.

Reich und die KPD
Seit 1930 in Berlin, trat Reich der KPD bei, wurde von dieser jedoch - nicht zuletzt wegen seiner umstrittenen Thesen - drei Jahre später ausgeschlossen. Nach der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 floh Reich zunächst nach Wien. Im September 1933 erschien seine Schrift "Die Massenpsychologie des Faschismus". Von Wien aus emigrierte er nach Dänemark, er reiste auf der Suche nach einem Exil durch halb Europa und landete schließlich in Oslo.

Ausschluss auf Betreiben Freuds
1934 wurde er auf dem 13. Kongress der Psychoanalytiker in Luzern auf Weisung Freuds aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. Freud, so hieß es später, habe damit ein Verbot der Psychoanalyse durch die nationalsozialistischen Machthaber in Österreich verhindern wollen.

Die Vegetotherapie
Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges emigrierte Reich 1939 nach New York. In den USA entfernte er sich immer weiter von der traditionellen Psychoanalyse, entwickelte in den nächsten zwei Jahrzehnten neue Behandlungsmethoden (Vegetotherapie). Im Zuge weiterer Forschungen wurde er in den USA sogar als Kandidat für den Medizinnobelpreis gehandelt, bis er schließlich glaubte, eine neue Energieform entdeckt zu haben, die er "Orgon" nannte.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines Geräts zur angeblichen Akkumulation dieser Energie (Orgon-Akkumulator) kam es zum Konflikt mit den US-Justizbehörden. Ein Gericht verurteilte ihn in diesem skurrilen Rechtsstreit schließlich 1956 zu zwei Jahren Gefängnis. Reich starb am 3. November 1957 nach offiziellen Angaben einen plötzlichen Herztod. Eine Autopsie wurde jedoch nicht vorgenommen, und alle Dokumente im Zusammenhang mit seinem Tod verschwanden.

Nachlass erst jetzt zugänglich
Vor seinem Tod hatte Reich verfügt, dass sein gesamter wissenschaftlicher Nachlass erst 50 Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürfe. Sämtliche Dokumente werden deshalb im November von der Bibliothek der Harvard University Medical School für wissenschaftliche Studien freigegeben.

"Wir gehen davon aus, dass da noch viele Schriften sind, die aufgearbeitet werden müssen", sagte Renate Hochmaier vom Wiener Wilhelm-Reich-Institut. Sie könnten, so die Wissenschaftlerin, zur Aufklärung zahlreicher Missverständnisse beitragen, die noch immer das Bild Reichs in der Öffentlichkeit prägen.

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