"Ich bin ein Mann der Medien"

"Die meisten Ideen, die ich als Interpret habe, haben in irgendeiner Weise mit dem Mikrofon zu tun."
"Ich bin kein Pianist, ich bin ein Mann der Medien, ein Komponist und ein kanadischer Schriftsteller, der in seiner Freizeit Klavier spielt." Glenn Goulds leicht kokette Selbstbeschreibung hat einen durchaus wahren Kern. Der Mann, der von den einen hymnisch verehrt, von den anderen wiederum wegen seines abgehackten und zum Karriereende hin sehr langsamen Non-legato-Spiels ebenso radikal abgelehnt wird, sah sich am allerwenigsten als eines: als Bühnenvirtuosen.

"Die Bühne ist tot"
Bereits 1964, im Alter von 32 Jahren, verabschiedete sich Gould von der Konzertbühne. "Die Bühne ist tot", war seine tiefe Überzeugung, wie er gegenüber dem Kanadischen Rundfunk schilderte.

Goulds Hauptfokus galt, wie bei seinem kanadischen Landsmann Herbert Marshall McLuhan, der Rolle der Medien im "elektrischen Zeitalter". Gould, der zahlreiche Überlegungen dazu zu Papier brachte, reiht sich damit bewusst in eine Reihe kanadischer Mediendenker ein, die von Harold Innis über McLuhan bis zu Northrop Frye reicht.

"Ein Klima der Anonymität"
"Die Technologie hat die Fähigkeit, ein Klima der Anonymität zu schaffen und dem Künstler die Zeit und die Freiheit zu geben, nach besten Kräften seine Auffassung eines Werkes herauszuarbeiten. Sie hat die Fähigkeit, jene schlimmen und erniedrigenden und menschlich schädlichen Ungewissheiten zu beseitigen, die das Konzert mit sich bringt", meinte Gould, und der mit ihm befreundete McLuhan meinte Anfang der 60er Jahre bestätigend: "Gepriesen sei Glenn Gould dafür, dass er das Konzertpublikum auf den Schrottplatz befördert hat."

McLuhan wohnte Ende der 60er Jahre in Toronto in unmittelbarer Gehweite des psychosomatischen Gould. Des Öfteren habe Gould im Arbeitszimmer seines Vaters vorbeigeschaut, erinnerte sich Eric McLuhan später. Gould beschäftigte sich nicht nur mit den Schriften McLuhans, sondern ebenso mit dem Technikbegriff der Theologen Jean Le Moyne und Pierre Teilhard de Chardin.

"Ich sehe keinen Sinn darin, Technik als Übertragungsmöglichkeit zu nutzen und gleichzeitig ihre weit wichtigeren philosophischen Implikationen zu übersehen", meinte Gould, der sich ab der Mitte der 60er Jahre vor allem auf seine Rolle als Medienmacher konzentrierte, etwa durch die Entwicklung seiner Radiosendungen für die Canadian Broadcasting Corporation (CBC).

Die Aufnahme als Kunstform
Mit Musikaufnahmen verhielt es sich für Gould wie mit dem Drehen eines Films - die Aufnahme stellte für ihn eine eigene Kunstform dar. An authentische Wiedergaben etwa von Konzertmitschnitten glaubte Gould nicht; solche Auffassungen waren ihm verhasst.

"Wenn es überhaupt einen guten Grund gibt, eine Plattenaufnahme zu machen, dann meiner Meinung nach den, dass man es anders machen, das Werk aus einer völlig neuschöpferischen Perspektive sehen will, dass man das Werk so spielen will, wie man es nie zuvor gehört hat", so Gould.

Seine um über zwölf Minuten gedehnte zweite große Einspielung der Bach'schen "Goldberg-Variationen" im Jahr 1981 sollte genau diesen Anspruch einlösen.

Offener Umgang mit der Tradition
"Die meisten Ideen, die ich als Interpret habe", so Gould 1966, "haben in irgendeiner Weise mit dem Mikrofon zu tun." Gould habe bemerkt, erinnert etwa Kevin Bazzana in seiner Gould-Biografie, dass die Aufnahmetechnik auch die Beziehung zwischen Komponist, Interpret und Hörer verändere.

Gould trat für einen offenen, freien Umgang mit der überlieferten Tradition ein - er wollte den Hörer einbeziehen in den kreativen Vorgang. Der Hörer habe das gleiche Recht, an der Einspielung des Künstlers herumzubasteln, wie der Interpret am Ausgangsmaterial. "Am Einstellungsknopf herumzudrehen ist auf gewisse eingeschränkte Weise ein interpretativer Akt", so Gould.

Faszination Radio
Besonders groß war Goulds Begeisterung für die Möglichkeiten des Radios, und das nicht nur in Bezug auf die Musik. Gould faszinierten die Intimität des Rundfunks und seine Tiefenwirkung - wie es McLuhan formulierte: "Macht des Rundfunks, Menschen in ihrer ganzen Tiefe miteinzubeziehen."

Gerade die CBC in Kanada widmete sich, trotz des Aufstiegs des Fernsehens, weiterhin mit großer Leidenschaft und Aufwand ganz unterschiedlichen Radioprogrammen. Hier sollte der leidenschaftliche Radiohörer Gould ab Mitte der 60er Jahre so etwas wie sein Hauptbetätigungsfeld finden (auch wenn er danach ebenso das Fernsehen für seine "Essays im McLuhan-Stil" nutzen wollte).

"The Idea of the North"
Mit "The Idea of the North", ausgestrahlt im Winter 1967, schrieb Gould Radiogeschichte. Er nutzte die Idee einer Zugreise, um unter Zuhilfenahme des Zugkonzepts (eine Idee, die von Harold Innis geborgt scheint) die unterschiedlichen Territorien und Kulturen Kanadas in einem Radioessay aufeinandertreffen zu lassen.

Gould entwickelte dabei das Konzept des "kontrapunktischen Radios": Dokumentation, Drama und Musik sollten in diesem essayartigen Format ineinanderwirken. Gould überlagerte dabei Stimmen, die ständig ineinandergriffen, so als hätte jemand an den Reglern des Radios manipuliert und andauernd verschiedene Sender ineinandergemischt. Die Stimmen, die sich akustisch ineinanderschoben, standen für unterschiedliche Auffassungen des Nordens.

Das gesprochene Wort als Musik
Gould bemühte sich, wie Bazzana schreibt, "um eine Art Radiosendung, die den Hörer gefangen nahm und ihn zwang, ein Rätsel mit Ohren zu lösen". Als eine "Finlandia für Kanada" bezeichnete man Goulds "Idea of the North" mit Anspielung auf Jean Sibelius und meinte damit, wovon Gould überzeugt war: dass seine Produktion ein Musikstück ist. McLuhan hatte sich in einem Interview mit Gould grundsätzlicher geäußert: "Das gesprochene Wort ist jederzeit Musik, reine Musik."

Auch für Gould feiert der Mystizismus im elektrischen Zeitalter eine Wiederkehr. Mit McLuhan teilte er ja die Vorliebe für den "Theologen der Evolution", Teilhard de Chardin. Sah McLuhan eine durch die zeitgenössischen Medien hervorgerufene Tendenz zur Oralität und zum Tribalen, so hatte Teilhard in seinen Schriften einen grundsätzlicheren evolutionären Übergang angedacht. Die Erde werde sich von der Biosphäre zur Noosphäre entwickeln und die Menschheit im Verlaufe dieses Prozesses den Individualismus überwinden, um zu jenem Punkt zu gelangen, "an dem das Christuserlebnis einer völlig neuen Gemeinschaft auf sie sie wartet".

Unterwegs zur reinen Kunst
Gould, der mit zunehmendem Alter religiöser wurde und als erzogener Presbyterianer überzeugt war, dass man sich den Tod verdienen musste, sah schon in der Kunst die Überwindung des Individualismus verwirklicht. Mit Hilfe der elektrischen Medien ließen sich die Belastungen der "Persönlichkeit", die Gould im Konzertbetrieb so gestört hatten, abschütteln: "Ich glaube, das schönste Kompliment, das man einer Schallplattenaufnahme machen kann, ist die Anerkennung der Tatsache, dass alle Zeichen, alle Spuren des Schöpfungsprozesses und des Schöpfers ausgelöscht sind."

Buchhinweis
Kevin Bazzana: Glenn Gould. Die Biografie. Schott Verlag, 432 Seiten, 25,70 Euro.

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