"Verleite nie einen Pantomimen zum Reden"

Marceaus Kunst war lyrische Poesie, seine Biografie umso dramatischer.
Jeder hat seine Geschichten verstanden - auch ohne Worte, denn seine Sprache war universell. Sie bestand nicht aus Worten und Schriftzeichen, sondern aus Bewegungen und Gesten.

Marcel Marceau, der in seinem quer gestreiften Trikot, seiner weißen Hose und roten Blume am zerknautschen Zylinder als bleicher "Monsieur Bip" Geschichten aus dem Alltag erzählte, hat mit seiner wortlosen Kunst ein Weltpublikum erobert.

60 Jahre "ewige Jugend"
Vor 60 Jahren hatte sich der französische Pantomimekünstler dem Theater der Stille verschrieben. Auf der Bühne wirkte er bis zuletzt alterslos. "Die Kunst der Pantomime verleiht ewige Jugend", hatte einer seiner Lehrer, Etienne Decroux, dem Künstler 1944 vorausgesagt.

Mimodramen nannte Marceau seine poetischen Erfolgsnummern, bei denen Bip als David auftritt und sich in Goliath verwandelt oder in Don Juan, und die von Liebe und Glück, Fröhlichkeit und Trauer, Alter und Tod erzählen - oder in denen einfach auch nur minutenlang eine Blume dargestellt wird.

Notorische Plaudertasche
Die lyrische Körpersprache, mit der er "Gefühle durch charakteristische Haltungen" ausdrückt, ist nie aggressiv oder verletzend. "Ich war nie ein Extremist", sagte der Sohn eines jüdischen in Auschwitz ermordeten Fleischhauers einst und fügte hinzu: "Ich habe nie begriffen, wie Christen Antisemiten sein konnten."

Privat war Marceau eine notorische Plaudertasche. "Verleite nie einen Pantomimen zum Reden", war sein scherzhafter Stehsatz zu diesem Thema. Nicht umsonst hatte sich Regisseur Mel Brooks in seinem legendären "Silent Movie" die Hommage ausgedacht, dass Marceau den einzigen Satz des ganzen Films sprechen sollte.

Dramatische Biografie
Der in Straßburg geborene Marceau mit dem bürgerlichen Namen Mangel floh mit seinem Bruder und seiner Mutter 1940 in die nordfranzösische Stadt Lille. In der französischen Widerstandsbewegung nahm er den Namen Marceau an und diente nach dem Einmarsch der Alliierten in Paris der ersten Befreiungsarmee.

Bei seinem späteren Militärdienst in Deutschland trat er vor Kameraden erstmals als Pantomime auf. Seinen künstlerischen Durchbruch erlebte Marceau dann als Harlekin in dem Film "Kinder des Olymp" (1945) des französischen Meisterregisseurs Marcel Carne.

Pierrot + Dickens = Bip
Schon 1947 kreierte Marceau seine berühmteste Figur: Monsieur Bip, den traurigen und ironischen Clown, den er nach einer Figur von Charles Dickens schuf und immer wieder neu in Szene setzte. Er war ein Nachfahre Pierrots, hatte jedoch ein soziales Gewissen. Mit dem tragikomischen Bip ist Marceau zum bedeutendsten Pantomime unseres Jahrhunderts geworden.

Marceaus Kunst, die er bewusst auf exakt 120 Gesten und Bewegungen reduzierte, lebte von der Identifikation und war nicht mehr von seinem Namen zu trennen. "Das Theater ist überall in der Welt zu weit vom Physischen abgekommen. Sie geben Worte statt Körper. Ich erzähle von den allereinfachsten Dingen. Ich gebe den Leuten im Theater wieder einen Helden - Bip -, in den jeder Einzelne sich selbst hinein zu denken vermag. C'est tout!"

Sabine Glaubitz/dpa