Der harte Alltag auf der Bühne

Betablocker gegen Angst und Cortison für die Stimme.
Die Salzburger Festspiele gehen ihrem Ende zu, und ein Fazit lässt sich abseits der offiziellen Bilanzen schon ziehen: Das Musikfestival hat wieder einmal für viel Gesprächsstoff gesorgt - nicht zuletzt, weil etliche Opernstars in letzter Minute ihre Auftritte abgesagt haben.

Horrorsaison in Salzburg
Anna Netrebko musste nach einer Erkrankung ihre Stimmbänder schonen, Rolando Villazon brauchte nach einer nicht nur stimmlichen Krise eine Auszeit, Vesselina Kasarova erholte sich von einer Fußverletzung, Neil Shicoff von seiner Staatsopern-Niederlage.

Nun fragt sich die Musikwelt, wie hart der Alltag auf den Opernbühnen wirklich ist. Denn nicht nur Salzburg hat eine Horrorsaison hinter sich.

Wottrich wurde krank
Bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth wurde schon über ein Karriereende des Tenors Endrik Wottrich gemunkelt, weil er nach seiner ersten "Parsifal"-Aufführung krankheitshalber ausfiel.

Für Bestürzung in der Opernwelt sorgte vor kurzem auch der Tod des US-Startenors Jerry Hadley, der nach einem Selbstmordversuch starb.

"Doping" längst Alltag
Der Druck in der Branche sei einfach zu groß geworden, meinen nun viele, und erstmals wird offen von Alkohol- und Medikamentenmissbrauch gesprochen.

"Doping" in der Musik sei längst Alltag, sagte Wottrich vor kurzem in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung": "Solisten nehmen Betablocker, um ihre Angst in den Griff zu bekommen, einige Tenöre nehmen Cortison, um die Stimme in die Höhe zu schrauben, und Alkohol ist gang und gäbe."

Fast wie bei der Tour de France
Der Vergleich der Oper mit dem gerade von Dopingskandalen schwer erschütterten Radsport sei "gar nicht so abwegig", sagte der Tenor.

"Der eigentliche Druck ist nicht mehr das gute alte Lampenfieber, er kommt aus einer neuen Dimension, die in die Oper eingedrungen ist - sie lebt vom Glamour, und da stören alltägliche, menschliche Fehler. Ich stelle eine allgemeine Vereinsamung des Einzelnen im musikalischen Kollektiv fest."

Der kämpferische Wottrich ist unter Kollegen, Journalisten und Opernfans nicht unumstritten, aber mit seiner Kritik an der Boulevardisierung - "Sänger werden heute nach den Kriterien von Jenny Elvers, Paris Hilton oder Christoph Schlingensief gemessen" - steht er keineswegs allein da.

Netrebko mit Mitte 30 passe?
"Die Leute reden schon von der 'neuen Anna Netrebko' - dabei ist sie erst Mitte 30. Es heißt bereits: 'Anna ist passe, suchen wir jemand neuen'", sagt etwa die kanadische Staatsopern-Sängerin Adrianne Pieczonka.

Quer über den Globus
Es gibt aber noch andere, bodenständigere Gründe dafür, warum die Anforderungen an Sänger in den letzten 50 Jahren gestiegen sind: Opernbühnen sind größer geworden, die Saisonen länger, die Orchester lauter - und die Welt kleiner.

Selbst Pieczonka, die sich in Sachen Globetrotting bewusst zurückhält, hat nach ihrem Bayreuth-Engagement im Sommer in den nächsten Monaten Auftritte in Los Angeles, Toronto, New York, Barcelona, Wien und München.

"Müssen Nein-Sagen wieder üben"
Einziges Gegenrezept laut Jürgen Flimm: "Das Tempo verlangsamen, den Ball flach halten". Die Branche müsse "das Nein-Sagen wieder üben", sagte der neue Salzburger-Festspiele-Intendant kurz vor Ende seiner ersten Saison der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

"Heute geht alles viel zu schnell. Bildhübsch, tolle Stimme, gerade fertig mit der Juilliard School und gleich das erste Engagement an der Met, das große Geld, ein Auftritt nach dem anderen an großen Häusern."

Die Oper als Stundenhotel
Der Karriereweg sei abgekürzt: "Das geht heute nicht mehr langsam aufwärts über die Stadttheater von Lübeck nach Frankfurt bis zu uns. Deshalb schaffen es die Sänger auch nicht mehr, sich ein breites Repertoire aufzubauen." Es fehle die Zeit, das Singen mit Erfahrung zu durchwirken, so Flimm.

So sieht das auch Wottrich. Im aktuellen Umfeld der Klassikindustrie müsse man sich zwischen Glamour und Stadttheater entscheiden: "Damit wird der Basis des Gesangs der Boden genommen. Heute ist die Oper ein Stundenhotel, in dem sie in möglichst wenigen Jahren möglichst viel Kohle verdienen müssen. Das ist Prostitution. Aber natürlich nehmen Anna Netrebko oder andere dieses Angebot auch an."

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