"Bist du Grähnzfall"

Der Mann im "Gender Trouble" und in Schwierigkeiten mit sich selbst. Robert Menasses "Don Juan" als Mann von la Mancha.
Könnte man anno 2007 den geneigten Lesern noch einmal einen "Mann ohne Eigenschaften" vorlegen? 2.000 Seiten mit offenem Ende - das brächte nicht nur Verleger in Verlegenheiten. Eine breite Leserschaft fände wohl weder Zeit noch Lust, mit so einem Konvolut geschweige denn Figuren vom Zuschnitt eines Ulrich oder Moosbrugger umzugehen.

In welche Form also mit einer Zeitdiagnose, die die Erzählung mit der essayhaften Betrachtung verbindet? Wohin mit jener Figur des unnützen Helden, der an seiner Zeit laboriert und am meisten an sich selbst? Eine mögliche zeitgemäße Antwort zu diesem Ansatz gibt Robert Menasse mit seinem neuen Roman "Don Juan de la Mancha" (Suhrkamp). Dieser erinnert mit seinem edukativen Untertitel "oder Die Erziehung zur Lust" an die Bauart französischer Aufklärungsromane.

Auf der Suche nach der verlorenen Lust
Doch sowohl alle Ansprüche auf Erbauung und Besserung des Menschen als auch die Fährten zur Geschichte der Literatur darf der Leser gleich zu Beginn getrost vergessen. Menasse führt ohne große Umschweife in die Tiefen von Lust, Kastrationsangst und Geschlechtertaumel - heute würde man zeitgemäß wohl "Gender Trouble" sagen.

Nathan, dem Helden dieser Ich-Erzählung, ist die "Lust" zwar nicht vergangen - er kann seine Libido in einer Gesellschaft, "die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen", aber nur noch im System-, also Ehebruch abrufen.

Zum Verführer bestimmt
Nathan ist - offenkundig durch die Gene des Vaters - zum Verführer bestimmt, weswegen die Liebe schon einmal auf die lange Bank der Utopie geschoben werden darf: "Entweder hohe Minne oder gute Minne zum bösen Spiel." In den Post-68er-Uniseminaren waren die Frauen entweder schlecht gewaschen oder sie belegten den nach körperlicher Liebe suchenden Mann (und sich selbst) mit einem "Penetrationsverbot".

In der Gegenwart, in der sich der saturierte fifty-something Held befindet, existiert die Lust nur noch als Erinnerung - was möglicherweise recht banal mit einer Midlife-Crisis zusammenhängen könnte: An Nathan zieht das vergangene Leben vorbei. Früher war der eigene Körper noch agiler, in der Gegenwart sind die Menschen dafür besser angezogen, rein objektiv also verführerischer verpackt.

Jugendlichkeit als Chimäre
Nathan kann jedoch in der konsumzentrierten Gesellschaft mit seinem angelesenen Bücherwissen nirgendwo mehr hin. Er arbeitet für das Ressort "Leben" einer Zeitung.

Dort ist nicht nur jede Form von Bildung perdu (ein Umstand, der auf die ganze Gesellschaft zutreffen mag); die Zeitung vollzieht das gleiche absurde Projekt, dem auch Nathan sich stellt: Sie führt alternden Menschen die nicht erreichbare Chimäre von Jugendlichkeit vor. An diesen unschönen Umständen darf der vernunftbegabte Mensch schon mal laborieren.

Im "Hotel zur Spinne"
Nathan flüchtet sich von seiner Ehe mit einer studierten Philosophin, die mittlerweile Managerin im Modekonzern Zara ist, in eine Affäre mit Christa - auch eine karrierebewusste Frau, was das Zeitbudget in der Lustsuche einschränkt, den Hang zum intensivierten Lustkonsum aber erhöht.

Mit Christa taucht Nathan regelmäßig ab - mal ins "Hotel zur Goldenen Spinne" (wo zum Beischlaf in Schokolade getunkte Spargelspitzen gereicht werden), mal in die Toilette eines Wiener Restaurants oder Cafes.

Bei Christa erfährt Nathan auch so etwas wie die erwartbare Selbsterniedrigung. Christa ruft als Dozentin für alte Sprachen zwar verloren geglaubtes Liebeswissen ab - sie exerziert ihm aber stets eines vor: Mehr Lust, das empfindet eigentlich immer die Frau.

Das Schnittlauchbrot
Der Lust kommt Nathan mit Christa zwar näher, vom "Leben", dem Ressort, das Nathan bei einer Wiener Zeitung leitet, kommt er aber immer stärker ab.

Nathan verspielt dort seinen Job, weil er von einer Reportage-Reise nach Paris (die natürlich eine Erotik-Reise in Nathans Frauenvergangenheit werden sollte) zum Gourmet-Star Alain Ducasse mit leeren Händen, nämlich dem aus einer Wiener Küche besorgten Gourmet-Rezept für ein köstliches Schnittlauchbrot zurückkehrt.

"Wir fotografierten in vier Schritten die Herstellung eines - Schnittlauchbrotes. Inklusive 'Der kleine Trick des Kochs': den geschnittenen Schittlauch nicht mit den Fingerspitzen über das Brot streuen, auch nicht mit dem Messer aufnehmen und auf das Brot kippen, sondern: das bebutterte Brot umgedreht auf den Schnittlauch drücken. Dadurch ist der Schnittlauch nicht nur dichter und gleichmäßiger auf dem Brot verteilt, er haftet auch besser und rieselt nicht bei jedem Bissen runter."

Zurück ins Fruchtwasser
Nathan fliegt, hoch abgefertigt, aus der fremden Zeitungswelt und fällt - direkt ins Fruchtwasser. Dank des Badezusatzes "Bellamnion", der in der Badewanne die Konsistenz des mütterlichen Fruchtwassers vorgaukelt, wird Nathan noch einmal sein Leben verdichtet an sich vorbeitreiben lassen.

Immerhin stammt der Auftrag zur erzählerischen Selbstvergegenwärtigung von seiner Therapeutin. Und so lassen nicht nur Don Juan und Marivaux in diesem Roman grüßen, sondern ebenso Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Woody Allen.

Nathan möchte bei seiner Erzählung das eine oder andere Mal mogeln. Zurück auf Linie bringt ihn aber die Therapeutin. Sie wird am Ende Nathans Lebensgeschichte gewinnbringend verwerten ("Das Don-Juan-Syndrom"), so wie auch die Frauen, für die Nathan die größte Lust empfand, das machen, was ihm versagt blieb: eine ordentliche Karriere.

"Ist alles Grenze, ist alles eins"
Don Juan und Don Quichotte sind in der Person Nathans eng miteinander verzahnt. Oder, wie es die ungarische Astrologin aus Nathans Zeitung formuliert, deren Horoskope Nathan während seiner Lehrzeit in ordentliches Deutsch übersetzen musste: "Bist du Grähnzfall. Nicht da nicht dort. Wänn ich anschauäh deine Sonnäh, ist nicht mehr Zwilling, nicht mehr Kräbs. (...) Zeichne ich Liniäh hier auf Radix, dann nächste Liniäh ist sählbä Liniäh, ist alles Grenze, ist alles eins."

Für Männer gibt es bekanntlich keine "Brigitte"-Hefte, stattdessen etwa Auto-, Uhren- und Erotikmagazine. Jüngst darf "Mann" aber wieder zum Buch greifen. Neben den eher unterleibslosen Helden Wilhelm Genazinos, die zwar Beischlaf haben, dabei aber immer über sehr grundsätzliche Dinge des Lebens nachdenken, hat Menasse nun den etwas virileren und dank vieler Kalauer und Zoten weitaus vergnüglicheren "Mann ohne Eigenschaften" geschaffen.

Gerald Heidegger, ORF.at

Buchhinweis
Robert Menasse: Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust. Suhrkamp Verlag, 278 Seiten, 18,80 Euro.

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