Karriere als "wichsende Witwe"

Marianne Faithfull begeistert in einem sonst umstrittenen Film.
Es klingt wie der Plot eines Schundromans: Maggie, Witwe, Mitte 50, muss dringend Geld zur Rettung ihres todkranken Enkels auftreiben und wird zur erfolgreichen Sexarbeiterin "Irina Palm".

Mit der gleichnamigen Kinokomödie lieferte der belgische Regisseur Sam Gabarski im Frühjahr den Publikumsliebling bei der Berlinale. Jetzt kommt der Film in Österreich in die Kinos.

Stets würdevoll
Dass "Irina Palm" das Schundroman-Territorium weit hinter sich lässt, ist vor allem der Hauptdarstellerin Marianne Faithfull zu verdanken.

Für die Popikone, die einst als Rolling-Stones-Groupie und Heroin-Junkie für Schlagzeilen sorgte, ist die Figur der zunächst naiven, zurückhaltenden, aber stets würdevollen Maggie eine Paraderolle.

"Hostess" gesucht
Nach der Erkrankung ihres Enkels nimmt Maggie ihr Leben im wahrsten Sinne des Wortes selbst in die Hand und einen Job in einem Londoner Sexclub an: Beim Etablissement "Sexy World" wird via Straßenplakat eine "Hostess" gesucht.

Maggie vermutet zu Beginn einen unschuldigen Kellnerinnen-Job, doch bald sitzt sie unter dem Fantasien anregenden "Künstlernamen" Irina Palm (Palm = Handinnenfläche) hinter einer Wand mit Loch, in der Sexindustrie als "Glory Hole" bekannt.

Die zartesten Hände
Erst angeekelt, dann mehr und mehr routiniert befriedigt sie die Lust der Kunden: Die stecken ihr "bestes Stück" durch, und die Pensionistin sorgt mit sicherem Griff für ihre Erleichterung. Bald entdeckt nicht allein Clubbesitzer Miklos (Miki Manojlovic) Maggies Besonderheit: Keine hat so zarte Hände wie sie.

Sehr schnell ist die "wichsende Witwe", wie sie sich selbst bezeichnet, weithin berühmt. Die Kunden stehen Schlange, und Maggie bekommt vor lauter Arbeit sogar einen "Penisarm" und muss von der rechten auf die linke Hand wechseln.

Kein Kunde ahnt, dass sich hinter der Wand eine Frau in mittleren Jahren mit Kittelschürze verbirgt. Vor den scheinheiligen Nachbarn, aber auch vor der eigenen Familie verheimlicht Maggie ihre Arbeit zunächst, was zu einer Reihe von harschen Konflikten führt.

"Kein Spaß"
"Die Sexindustrie ist nicht unbedingt etwas Spaßiges, sondern verdammt harte Arbeit", sagte Faithfull nach der Uraufführung des Films bei der diesjährigen Berlinale. Sie habe Freunde, die in der Sexindustrie gearbeitet und nicht ein einziges Mal erzählt hätten, es habe ihnen Spaß gemacht.

"Diese Liebe von Maggie zu ihrem Enkelsohn ist ganz rein, bedingungslos. Da tut man alles. Das tun wir Frauen. Das ist nicht immer leicht, glauben Sie es mir", so Faithfull.

Kein Preis in Berlin
Als Sängerin genießt die 60-Jährige seit rund vier Jahrzehnten weltweit Kultstatus. Als Schauspielerin errang Faithfull in den vergangenen Jahren vor allem in Nebenrollen einige Erfolge, etwa im Vorjahr in Sofia Coppolas Kostümdrama "Marie Antoinette". Mit der hinreißend verschmitzten Interpretation der Titelrolle in "Irina Palm" hat sie nun einen Triumph erzielt.

In Berlin lief "Irina Palm" im Wettbewerb und galt als absoluter Publikumsfavorit, und Faithfull wurde als heiße Anwärterin auf einen Schauspiel-Preis gehandelt. Die Jury ignorierte Film und Hauptdarstellerin jedoch.

Spießig?
Ähnlich widersprüchlich sind die Reaktionen in der Presse. Während die einen von einem "Film von unerwarteter Größe" sprechen ("Frankfurter Rundschau") und Garbarskis Witz und Einfallsreichtum beim Verdecken nackter Tatsachen und dem Aufdecken von Bigotterie loben, sehen die anderen genau darin den größten Fehler.

Die "tageszeitung" schreibt, "Irina Palm" funktioniere nur unter spießigen Gesichtspunkten, "jenen Vorstellungen, die besagen, dass ältere Frauen keine Sexualität und keine Sexyness haben, dass man, um 'hand jobs' zu machen, jung und knackig sein muss, dass es mächtig verwegen ist, einen Spielfilm zu machen, der sich des 'glory holes' annimmt. Wer all dies glaubt, wird seinen Spaß haben an 'Irina Palm'. Wer nicht, hat nichts zu lachen."

Nie rührselig
Durchwegs Lob gibt es allerdings für die Hauptdarstellerin: Zeigt Faithfull die Mittfünfzigerin zunächst als naive Hausfrau, enthüllt sie mit Fortschreiten der Geschichte mehr und mehr die Kraft, den Charme und die bezaubernde Menschlichkeit der Figur.

Jede Falte im Gesicht wie einen Sieg über Widrigkeiten des Lebens stolz präsentierend, gelingt ihr das anrührende, jedoch nie rührselige Porträt einer Frau, die aus Verzweiflung die Grenzen des eigenen Moralbegriffs durchbricht und dadurch die Hartherzigkeit der bürgerlichen Scheinmoral zu spüren bekommt.

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