Kein Lindenblatt mehr

"Frau Paula Trousseau" - Christoph Hein perfektioniert die nuancierte Beobachtung.
"Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich schutzlos": Vor über 20 Jahren hat der Autor Christoph Hein mit seiner Novelle "Der fremde Freund/Drachenblut" auch außerhalb der DDR literarisches Aufsehen erregt. Ein Mann hatte die Ich-Erzählung über eine Frau vorgelegt, die sich gnadenlos von der Welt, ihrem Freund, ja ihren Kindern abtrennt.

2007 tritt Hein mit einem Buch an die Öffentlichkeit, das in gewisser Weise als Langversion von "Drachenblut" angesehen werden kann, dabei aber die Intensität der Novelle auf einen ganzen, 500 Seiten starken Roman überträgt.

"Frau Paula Trousseau" (Suhrkamp) heißt das Werk, das erneut die Geschichte einer weiblichen Abkapselung und Einpanzerung beschreibt. Die Lebensgeschichte eines verlorenen Menschen wird rekonstruiert, die Spur von jemand gesucht, der sich von der Welt abgenabelt und den Freitod gewählt hat.

Tod in Vendome
Durch einen Zufall erfährt ein Mann, der uns als Sebastian Gliese vorgestellt wird, vom Tod einer Freundin, der Malerin Paula Trousseau, im französischen Vendome. Wenig später sucht der Sohn der Malerin Gliese auf: Seine Mutter habe ihn, Gliese, ausgewählt, ihren malerischen Nachlass zu verwalten. Der Sohn berichtet auch von einem Manuskript, das Paula Trousseau ihrer Tochter vermacht, das die Tochter aber nicht angenommen habe.

Hein inszeniert schon am Beginn seines Romans einen Spannungsbogen. Einer Randfigur gibt er einen kleinen Wissensvorsprung vor dem Leser: Gliese weiß mehr von Paula Trousseau als der Leser; er kennt ihre Biografie: keine Französin, wie man vielleicht vermuten könnte, sondern eine ostdeutsche Frau, die Malerin wurde und den Nachnamen ihres ersten Mannes, des Architekten Hans Trousseau, trug.

Wer war diese Frau wirklich?
Doch wie der Leser steht Gliese sonst vor einem Rätsel: Wer war diese Frau wirklich? Gliese kann sich von Paula kein Bild mehr machen, er gibt auf, "als sich das Gesicht einer Toten über ihr Bild schob". Von Paula Trousseau blieb am Ende ein großes, düsteres Werk. Doch lässt sich über die Kunst das Wesen einer Person ergründen?

Hein betreibt mit "Frau Paula Trousseau" keinen Biografismus. Hein lässt sich als Erzähler auf Verfahrensweisen der bildenden Kunst ein: Nicht linear will er erzählen und begründen. Er will verdichten und Schichten übereinander legen. Statt auf rationales Verstehen setzt Hein auf Begreifen durch Sehen.

Und für diesen Weg muss eines gelingen: Der Text muss feine Beobachtungen transportieren und dabei jedem Versuch der Erklärung widerstehen. Das gelingt Hein wie wenigen anderen Schriftstellern. Und das macht ihn, entgegen allen literarischen Moden, so singulär.

Ein doppelter Blickwinkel
Hein visiert die Lebensgeschichte der Paula Trousseau aus einem doppelten Winkel an: der Ich-Erzählung einer Frau, die beschließt, für ein Kunststudium ihre glücklose Ehe mit einem gut situierten Architekten aufzugeben. Doch diese Erzählung wird laufend durch ein anderes Narrativ gebrochen: Paulas Erlebnisse der eigenen Kindheit, allerdings in der dritten Person geschildert - man erlebt die Enge des Elternhauses, die trinkende Mutter, den gewalttätigen, aufbrausenden Vater und ein Kind, das seine eigene Welt konstruieren muss.

"Ich war unglücklich. Ich habe mit dem Malen angefangen, weil ich mich irgendwie retten musste", wird Paula später ihrer Freundin Sybille erzählen. Mit Sybille und der Jugendfreundin Kathi wird Paula Zuneigung ohne Schutzpanzer leben können. Über ihren ersten näheren Kontakt mit Sybille schreibt die Ich-Erzählerin: "Mit ihr erlebte ich, was ich zuvor nicht gekannt hatte. Es war nicht die Liebe zu einer Frau, es war die Liebe selbst, die Zärtlichkeit, die Sinnlichkeit, die Lust."

Die Gewalt des Vaters
Die nicht zuletzt auch körperliche Freundschaft zu Frauen ist für Paula der Rettungsanker in einer von männlichen Machtmustern bestimmten Welt. In den Beziehungen zu Männern wird Paula immer wieder der Gewalt des Vaters begegnen oder fürchten, mit dieser am Ende konfrontiert zu werden.

Ihre erste Tochter muss Paula aufgeben, weil sie sich mit dem unbedingten Wunsch, Kunst zu studieren, nach der Ansicht ihres damaligen Mannes schon zu viel rausgenommen hatte. Doch auch im Feld der Kunst wird Paula erkennen: Die Ordnung der Dinge wird von den Männern bestimmt.

Sie entscheiden über Aufstieg und Fall: "Ich hatte mich in meinem Leben stets aus eigener Kraft durchsetzen müssen, und ich werde auch weiterhin nur auf meine Energie bauen, nicht auf jene sogenannte weibliche Ausstrahlung, von der die Männer immer reden, auf diese Ausstrahlung von Schönheit und liebenswürdiger Anmut, die sie sich von uns erhoffen und die es ihnen leicht und bequem macht, so bequem, dass sie sogar glauben, mit uns zusammenleben zu können."

Das weiße Bild
Während man Paula das Handwerk der Kunst lehren will, sucht sie über die Kunst Bruchstellen auszuloten. Ihre monatelange, besessene Arbeit an einem weißen Bild wird zum Beinahe-Skandal an der Kunsthochschule. Das weiße Bild taucht immer wieder an Randstellen des Romans auf: Es musste weggesperrt werden, um Paula und andere nicht zu gefährden, in einem Land, das vordergründig egalitär war, aber dem Spießer, vor allem im Bereich der Kunst, ein sicheres Nest baute.

Als die Wende kommt, ist es für eine Selbstbefreiung zu spät. Gab es in der DDR noch Nischen für Frau Paula Trousseau, um mit ihren spartanischen Ansichten zu existieren, so wird sie in einer Welt nicht heimisch, in der die Gedanken und, noch mehr, der Verkehr der Waren frei sind.

Ein Bild konkretisiert sich
Heins Roman bleibt sich über 500 Seiten im Prinzip der detaillierten Beobachtung treu - an keiner Stelle wird psychologisiert. Langsam setzt sich das Bild von Paula Trousseau zusammen. Man sympathisiert mit dieser Frau, die sich doch so oft selbst im Weg steht.

Paula Trousseau ist gerade in ihrer Unnahbarkeit das Phantasma von Männern. Als sie in einer Ausstellung einen Akt von sich präsentiert, wollen Männer vor allem dieses Bild "kaufen" - auch in der Vorstellung, Paulas in gewisser Weise habhaft zu werden: "Ich bin eine andere, als ich scheine, und ich sollte auf meine Pullover, meine Shirts und Blusen vorn und hinten draufschreiben: Sie irren sich."

Als wäre er ein Flaubert des 21. Jahrhunderts, reduziert Hein seine Beobachtungen immer auf das Nötigste. An den Momenten, an denen Erklärungen fällig scheinen, setzt Hein die Zäsur: Ein Leben, so scheint seine These zu lauten, lässt sich nur über Brüche und Bruchstellen rekonstruieren. In seiner Erzählhaltung spiegelt sich die nicht gesehene Malerei der Paula Trousseau wider.

"Rätselhafte Schönheit"
"Die rätselhafte Schönheit dieses großen Romans", schreibt Martin Krumbholz in der "Neuen Zürcher Zeitung", "hat (...) ursächlich auch damit zu tun, dass man letztlich nicht genau erfährt oder dass man bestenfalls erahnt, warum Paula scheitert."

Paula Trousseau sucht die Nähe von Menschen, um sie am Ende zu verletzen - und sich selbst damit zu schaden: "Ich wollte geliebt werden, das war alles, und nun erging es mir (...) so, wie ich es bereits von früher kannte: Ich war das Mädchen, das nicht richtig dazugehörte."

Mit Konsequenz beendet Paula Trousseau ihr Leben. Am Ende, so scheint es, erreicht sie jene Gelassenheit, die sie über Jahrzehnte hinweg nicht zulassen konnte: "Ich habe so lange keinen Urlaub mehr gemacht, diese Fahrt will ich von Beginn an genießen." Es wird Paula Trousseaus letzte Fahrt sein.

Gerald Heidegger, ORF.at

Buchhinweis
Christoph Hein: Frau Paula Trousseau. Suhrkamp Verlag, 540 Seiten, 23,50 Euro.

Bild zum Bericht: Walter Strobl, "Zustand" (2004).

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