Apokalyptischer Optimismus

Horror wie von Hemingway.
Man stelle sich vor, Edgar Allan Poe und Ernest Hemingway wären noch am Leben und hätten gemeinsam die Vorlage für einen Science-Fiction-Film geschrieben: Sie würde sich lesen wie der soeben auf Deutsch erschienene Roman "Die Straße" (Rowohlt) von Cormac McCarthy.

Selten wurde ein so nervenzerfetzender, vor keinem Horror zurückschreckender Plot mit so viel Poesie und Einfühlungsvermögen erzählt.

Obwohl der 73-jährige McCarthy seit Jahrzehnten als einer der wichtigsten US-Autoren neben Philip Roth, Thomas Pynchon und John Updike gilt: Mit diesem Roman hat er sich nach einhelliger Meinung der US-Kritiker selbst übertroffen.

Nach der Akopalypse
Dabei könnte die Handlung, heruntergebrochen auf ihre Grundpfeiler, für einen beliebigen Science-Fiction-Film herhalten: brutal, dunkel, aalglatt.

Die Katastrophe hatte bereits vor Jahren stattgefunden, vielleicht ein atomarer Letztschlag, vielleicht ein Vulkanausbruch. Man erfährt es nicht.

Die Erde ist von Asche bedeckt. Sonnenstrahlen können eine dichte Staubdecke in der Luft nicht durchdringen. Es wachsen keine Pflanzen mehr. Die Überlebenden leiden Hunger. Totale Anarchie hat längst um sich gegriffen.

"Die Moorleichen der letzten Tage"
Vor diesem Hintergrund bricht ein Vater mit seinem vielleicht acht, neun Jahre alten Sohn auf, um die Küste zu erreichen, verbunden mit der vagen Hoffnung, dort könnten die Verhältnisse besser sein.

Tag für Tag durchschreiten die beiden zu Fuß ein Szenario des Grauens: "Überall mumifizierte Tote. (...) Verschrumpelt und ausgemergelt wie Moorleichen der letzten Tage (...). Wie Pilger irgendeines einfachen Ordens waren sie allesamt barfuß, denn ihre Schuhe waren längst gestohlen."

Babys, am Spieß gegrillt
Sie müssen auf der Hut sein bei ihrer verzweifelten Suche nach alten Konservendosen - der einzigen Möglichkeit, sich zu ernähren. Denn marodierende Banden von Kannibalen sind auf der Jagd nach Menschenfleisch.

Diese "Blutsekten" schrecken vor nichts zurück, Vater und Sohn müssen es immer wieder mit ansehen - und Yates bleibt dem Leser kein Detail schuldig: Babys werden am Spieß gegrillt, Menschen in Verließen gehalten und Stück für Stück verspeist.

Die Rettung in letzter Sekunde
Einige Male entkommen die beiden nur in allerletzter Sekunde den Menschenfressern, einige Male stehen sie kurz vor dem Verhungern, bevor sie doch noch auf vergessene Lager mit Nahrungsmitteln stoßen: "Das haben wir gut gemacht, Papa, nicht?" - "Ja, das haben wir gut gemacht."

So weit, so grausam - und auf den ersten Blick so banal: Das Buch ist ein Endzeitroman, ein Abenteuerroman. Ein wenig erinnert es darin an "The Invasion of the Body Snatchers" ("Die Körperfresser kommen", 1955) von Jack Finney.

Auch hier spielte der Autor mit dem Aushebeln der herrschenden Verhältnisse, verpackt in Science-Fiction-Horror, auch hier wurde die menschliche Natur hinterfragt.

Atemberaubende Schlichtheit
Aber im Gegensatz zu Finney fügt McCarthy der politischen Dystopie und dem Horror noch eine weitere Ebene hinzu, die in der Sprache begründet liegt.

McCarthys rhythmische Poesie schrammt ganz nah am Pathos entlang, überschreitet in ihrer atemberaubenden Schlichtheit aber nie die Grenze. Der Roman lässt sich am besten mit einem vielleicht abgedroschenen Adjektiv beschreiben: schön. Und in der Übersetzung Nikolaus Stingls geht nichts vom Sprachwitz des Originals verloren.

Sinnsuche in einer Welt ohne Sinn
Wie nebenbei offenbart sich die tiefe Liebe zwischen Vater und Sohn in kraftvoll-schlichten Dialogen. Voll gegenseitigem Respekt suchen die beiden nach einem Sinn in ihrem Leben, auf unterschiedliche Weise.

Mehr Moral als Überlebenswille
Der Vater sorgt sich um seinen Sohn, der das Einzige ist, "was zwischen ihm und dem Tod steht".

Der Sohn jedoch sorgt sich um die Moral - mehr als um das eigene Überleben. Der Tod hört sich für ihn gar nicht so schlecht an. Dann wäre er wieder mit seiner Mutter zusammen, die sich vor Jahren das Leben genommen hatte.

Was den Buben am Leben hält, ist die Hoffnung, zu "den Guten" zu gehören, von denen er keine kennt, von denen ihm sein Vater jedoch versichert, es gebe sie.

"Sind wir immer noch die Guten?"
Der Mann muss einen der Kannibalen erschießen, und wiederholt können Vater und Sohn anderen Bedürftigen nichts geben, weil sie selbst kaum genug zum Überleben haben.

"Der Junge saß da, bis über den Kopf in die Decke gehüllt. Nach einer Weile blickte er auf.

'Sind wir immer noch die Guten?', fragte er.

'Ja. Wir sind immer noch die Guten.'

'Und das werden wir auch immer sein.'

'Ja. Das werden wir immer sein.'

'Okay'"

Liebe und Moral
Einen anderen Sinn gibt es nicht: überleben und "zu den Guten gehören", das "Feuer bewahren", wie der Vater dem Sohn formelhaft versichert.

Liebe und Moral sind bei McCarthy die letzten Bastionen der Conditio humana nach dem Untergang - und genau hierin besteht die Kunst dieses Romans, der zugleich als apokalyptisch und optimistisch in Erinnerung bleibt.

Den Verlust der Welt nicht weitergeben
Nichts wird erzählt über das Leben vor der Apokalypse. Der Vater versucht den Sohn mit alten Geschichten zu verschonen, über eine Welt, die dieser nie gekannt hat, weil er erst nach der Katastrophe geboren wurde.

Er will nicht, dass sich sein Verlust der Welt im Buben wiederholt. Kurz angebunden ist der Mann, wenn sein Kind Fragen stellt, etwa wissen möchte, was Vögel waren.

Gleichzeitig verzweifelt der Vater am Verlust der Begriffe, denen ihre Entsprechung in der Realität abhanden gekommen ist: "Dass die Namen der Dinge langsam den Dingen selbst in die Vergessenheit folgten."

Auf den Hund gekommen
Neben den Dialogen schreibt McCarthy seine Science-Fiction mit der Selbstverständlichkeit eines Naturalisten. Durch die fehlenden Erklärungen bleibt wenig zu hinterfragen.

Nur selten fällt es ihm schwer, die Logik seiner Konstruktion durchzuhalten, etwa wenn plötzlich ein Hund auftaucht. Offenbar gibt es sonst keine Tiere, die man züchten könnte. Warum dann einen Hund?

Lobeshymnen in den USA
Dem frenetischen Lob der US-Kritiker tut das keinen Abbruch. Sie vergleichen McCarthy mit William Faulkner, Poe, H. P. Lovecraft, Beckett, Dante Alighieri - die Liste ist unvollständig.

Malcolm Jones bezeichnet "Die Straße" in der "New York Times" als "logischen Kulminationspunkt von allem, was McCarthy je geschrieben hat".

Gewalt und Apokalypse
Schon frühere Werke hielten postapokalyptische Szenarien und viel Gewalt bereit. Vergleichbar sei der Roman aber nur mit "All die schönen Pferde" (1992), mit dem sich McCarthy einer breiten Leserschaft erschloss. Es war der erste Teil seiner gefeierten "Border-Trilogie", einer Neuinterpretation des Western-Genres.

Die Trilogie gilt als eines der wichtigsten Werke, die während der vergangenen 25 Jahre in den USA erschienen sind. McCarthy lebt seit Jahrzehnten in Texas, El Paso, ist zum dritten Mal verheiratet und hat zwei Kinder.

Wann kommt der Horrorfilm?
Absehbar ist, dass McCarthy durch "Die Straße" einen neuen Popularitätsschub erfährt; vor allem, wenn das Buch verfilmt wird - und es bietet sich durch die zentrale Bedeutung der Dialoge geradezu als Drehbuch an.

"All die schönen Pferde" wurde 2000 mit Matt Damon und Penelope Cruz auf die Leinwand gebracht. Und Finneys "Die Körperfresser kommen" hat immerhin bereits drei Verfilmungen auf dem Buckel.

Simon Hadler, ORF.at

Buchhinweis
Cormac McCarthy: Die Straße. Rowohlt, 253 Seiten, 20,50 Euro.

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