"Eine verletzende Perversion"

Oettinger macht in einer Grabesrede aus Hans Filbinger einen Nazi-Gegner.
Seit Mittwoch wird der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günther Oettinger (CDU), eine Debatte nicht los. Am Grab des einstigen baden-württembergischen Landesvaters Hans Filbinger fiel Oettinger eine Form der Darstellung von Traditionsverbundenheit und Würdigung einstiger Unionsgranden ein, die in Deutschland viele vor den Kopf stößt.

"Filbinger kein Nationalsozialist"
Oettinger sprach die NS-Vergangenheit Filbingers, die letztlich der Grund für dessen politisches Aus war, nachdem sie in den 70er Jahren scheibchenweise ans Licht gekommen war, an.

Oettinger bescheinigte Filbinger, dieser sei "kein Nationalsozialist" gewesen, sondern "ein Gegner des NS-Regimes". Und Oettinger fügte hinzu: "Es gibt kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte." Der Jurist habe sich den damaligen Zwängen aber beugen müssen.

Scharfe Kritik von Knobloch
Seit diese Äußerungen bekannt und von Oettinger öffentlich verteidigt wurden, reißt die Welle empörter Stellungnahmen nicht ab. Die Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Charlotte Knobloch, kritisierte, den früheren Marinerichter Filbinger als Gegner des NS-Regimes zu bezeichnen sei "eine gefährliche und für die Überlebenden verletzende Perversion der historischen Realität".

Klarstellung von Merkel gefordert
Der Grünen-Fraktionschef im deutschen Bundestag, Fritz Kuhn, forderte Oettinger auf, seine umstrittenen Äußerungen in der Trauerfeier für Filbinger zurückzunehmen.

Die deutsch-französische Journalistin Beate Klarsfeld, die durch die Aufklärung nationalsozialistischer Hintergründe in Politikerbiografien bekannt wurde, verlangte ein klärendes Wort der CDU-Vorsitzenden, Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Merkel hätte klarere Worte gewünscht
Merkel distanzierte sich am Freitag von den Äußerungen Oettingers. Sie erklärte in Berlin, sie hätte sich gewünscht, dass bei der Grabrede Oettingers "auch die kritischen Fragen im Zusammenhang mit der Zeit des Nationalsozialismus zur Sprache gekommen wären".

Dagegen verteidigten der frühere baden-württembergische Kultus- und Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU) und der Vorsitzende der Jungen Union (JU) in Baden- Württemberg, Steffen Bilger, Oettingers Äußerungen.

Oettinger: "Eine Kampagne"
Trotz der massiven Kritik hatte Oettinger am Donnerstag seine Äußerungen bekräftigt: "Meine Rede war öffentlich, ernst gemeint, und die bleibt so stehen." Oettinger wies den Vorwurf der "Geschichtsklitterung" zurück und warf SPD und Grünen eine Kampagne vor.

Richtigstellung verlangt
Kuhn sagte der "Berliner Zeitung" am Freitag: "Günther Oettinger betätigt sich als Geschichtsverdreher." Der Ministerpräsident verharmlose sowohl die Urteile Filbingers als auch dessen Nichtverarbeitung der Taten.

"Herr Oettinger muss seine Äußerungen zurücknehmen", sagte Kuhn, der selbst jahrelang Fraktionschef im Stuttgarter Landtag war. Am Vortag hatte die SPD Oettinger scharf kritisiert. Die SPD-Landesvorsitzende und Bundesvize Ute Vogt hatte gefordert: "Solche Geschichtsklitterung erfordert Richtigstellung."

Klarsfeld: Oettinger braucht Nachhilfe
Die Journalistin Klarsfeld sagte der Chemnitzer "Freien Presse" (Freitag), Oettinger benötige offenbar dringend Nachhilfeunterricht über die Zeit des Faschismus. Die Verklärung der Nazi-Zeit scheine in der Tradition der Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg zu liegen, sagte Klarsfeld.

Sie wurde bekannt, als sie 1968 den damaligen Bundeskanzler und vormaligen Stuttgarter Regierungschef Kurt-Georg Kiesinger auf einem CDU-Parteitag ohrfeigte und als Nazi beschimpfte.

"Er muss verdammt gute Belege haben"
Der Stuttgarter Rabbiner Joel Berger warf Oettinger vor, die Verstrickung Filbingers in die Verbrechen des Nationalsozialismus bewusst zu verharmlosen. "Er muss verdammt gute Belege haben, wenn er öffentlich sagt, Filbinger sei ein Gegner des NS-Regimes gewesen", sagte Berger dem "Kölner Stadt-Anzeiger" (Freitag).

Dagegen nahm JU-Chef Bilger Oettinger in derselben Zeitung in Schutz. "Ich glaube, viele Anwesende haben es als befreiend empfunden, dass Oettinger einige Dinge mal klargestellt hat." Er sei "überrascht über diese Diskussion".

Mayer-Vorfelder: "Froh sein, wenn man NS-Zeit nicht erlebt hat"
Ex-DFB-Chef Gerhard Mayer-Vorfelder, der jahrelang Mitarbeiter Filbingers war, verteidigte Oettinger in den "Stuttgarter Nachrichten" (Freitag): "Es war mutig, aber richtig, was er gesagt hat."

Mayer-Vorfelder richtete sich an Kritiker in der jetzigen Situation und warnte vor falschen Schlussfolgerungen über das Verhalten während der Nazi-Zeit mit den Worten: "Jeder soll froh sein, wenn er nicht in diese Zeit hineingeboren wurde."

Der Fall Filbinger
Filbinger war politisch 1978 zu Fall gekommen. Er wurde damals für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt. Doch dann kam der Absturz. Auslöser war im Februar 1978 ein Beitrag des Schriftstellers Rolf Hochhuth in der Wochenzeitung "Die Zeit". Filbingers Mitwirkung an Todesurteilen gegen deutsche Soldaten wurde bekannt.

Mit einer Klage vor dem Stuttgarter Landgericht hatte der Ministerpräsident nur teilweise Erfolg. Hochhuth durfte weiter behaupten, Filbinger sei als "Hitlers Marinerichter" ein "furchtbarer Jurist" gewesen und habe "sogar noch in britischer Gefangenschaft nach Hitlers Tod einen deutschen Soldaten mit Nazi-Gesetzen verfolgt".

Filbinger: "Phantomurteile"
Nach und nach wurden vier Todesurteile bekannt, an denen Filbinger mitgewirkt hatte, darunter der Fall des Matrosen Walter Gröger. Das von Filbinger beantragte Todesurteil gegen Gröger wegen Fahnenflucht wurde in Gegenwart des Marinerichters vollstreckt.

Zwei weitere von ihm so bezeichnete "Phantomurteile" ergingen gegen Deserteure im sicheren Schweden. Ein viertes Todesurteil wurde auf Filbingers Betreiben umgehend in eine achtjährige Freiheitsstrafe umgewandelt.

Der baden-württembergische Regierungschef musste die Fälle Stück für Stück eingestehen. Bis zu seinem Tod sah sich Filbinger vor allem als Opfer "einer politisch gesteuerten Rufmordkampagne". Ähnlich wie Filbinger argumentiert nun sein indirekter Nachfolger auf dem Chefsessel der Stuttgarter Landesregierung.

Links: