"Habe schon inneren Frieden geschlossen"

Natascha Kampusch über ihren Entführer: Zu manchen Zeiten hätte er einem Dreijährigen "alle Ehre gemacht".
Natascha Kampusch hat am Mittwochabend in einer großen ORF-Dokumentation über ihr Leben in Gefangenschaft und ihren Entführer Wolfgang Priklopil gesprochen.

Diesem war sie "auf der einen Seite irrsinnig wichtig", auf der anderen Seite habe er sie "wie den letzten Dreck behandelt", so die 18-Jährige in dem im Rahmen eines "Thema spezial" ausgestrahlten Interview.

"Ich wäre ein paar Mal fast gestorben, vor Hunger, vor Kreislaufschwäche", erzählte Kampusch. Demnach hatte Priklopil "einen sehr starken Geiz, was Nahrung betrifft, und er war fast wie ein Magersüchtiger, der es auf andere Leute übertragen hat."

Peiniger mit Kind verglichen
Die 18-Jährige verglich ihren Peiniger im Interview mit einem Kind. Zu manchen Zeiten hätte er einem Dreijährigen "alle Ehre gemacht".

Allerdings sei es ein Unterschied, "ob ein dreijähriges Kind auf jemanden eintritt, einbrüllt und zornig ist und alles kaputt macht, oder ob das ein 1,72 Meter großer starker Mann ist".

"Lieber ein Ende mit Schrecken"
Beleuchtet wurde auch der Kriminalfall Kampusch bis zur Flucht der heute 18-Jährigen am 23. August 2006. "Ich hatte zwar wenig gegessen an diesem Tag, aber ich hatte nicht mehr so viele Blutergüsse und Verletzungen, so dass ich mich stark genug fühlte, um wegzulaufen", erzählte Kampusch.

Am Tag ihrer Flucht habe sie beschlossen, es müsse ein Ende geben. "Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken und eine Qual ohne Ende."

"Was hat dieser Mensch hier verloren?"
Auch an den Tag der Entführung im März 1998 erinnert sich die 18-Jährige. Sie habe ihn schon von weitem gesehen, fragte sich, was dieser Mensch hier verloren habe. "Irgendwie hatte ich ein Bauchgefühl und wusste, dass hier etwas nicht stimmt, beziehungsweise, dass er mir unheimlich ist."

Aus Angst, vor einem Auto überfahren zu werden, wechselte die damals Zehnjährige nicht die Straßenseite.

Tagelang wach im Verlies
"Ich habe schon meinen inneren Frieden geschlossen. Ich habe mir gedacht, jetzt gibt es dich bald nicht mehr", erzählte Natascha Kampusch über die Fahrt in Priklopils weißem Kastenwagen. In ihrem Verlies blieb sie tagelang wach, um zu verhindern, dass ihr im Schlaf etwas zustößt.

"Man sieht nichts, man hört nur. Man hört das eigene Blut rauschen, man spürt die Enge, die Kälte, man denkt viel nach."

Auch gebetet, "dass ihm irgendetwas passiert"
Auch habe sie stets befürchtet, ihrem Entführer könne etwas zustoßen und sie würde niemals aus ihrem Verlies herauskommen: "Allein schon dieser schwere Betonklotz, da kann man ja gar nicht ausbrechen". Selbst Suchhunde hätten das Gefängnis wahrscheinlich nicht gefunden, meinte auch Nikolaus Koch, Landespolizeikommandant im Burgenland und Leiter der Sonderkommission.

Diese Abhängigkeit vom Schicksal ihres Kidnappers bezeichnete die 18-Jährige als "irrsinnig ungutes Gefühl". Sie habe einerseits darauf hoffen müssen, "dass er ja nicht stirbt, damit man nicht verrottet, nie wieder gefunden" wird. Andererseits habe sie jedoch auch gebetet, "dass ihm irgendetwas passiert, damit das Ganze ein Ende hat".

"Nicht zufällig" ausgewählt
Gerichtspsychiater Reinhard Haller versuchte, die Persönlichkeit Priklopils näher zu beleuchten. Dieser habe mit Kampuschs Flucht "den liebsten Menschen verloren, seinen Lebensinhalt", so Haller zum Selbstmord Priklopils.

Der Psychiater glaubt an eine bewusste Auswahl von Kampusch als Entführungsopfer: "Es war auf jeden Fall so, dass dieses Mädchen nicht zufällig in seinen Erlebnisbereich gekommen ist, sondern er hat sie schon lange Zeit beobachtet, er wusste sehr viel über sie", zeigt sich der Experte überzeugt.

Auch die Familie seines Opfers dürfte Priklopil in den vergangenen acht Jahren beobachtet haben. Ihre Tochter wusste über das neue Auto Bescheid und dass ihre Schwester raucht, erzählte Kampuschs Mutter Brigitta Sirny.

Kampuschs Rolle in den Medien
Thematisiert wurde in der 50-minütigen Dokumentation auch das jetzige Leben der jungen Frau und ihre Rolle in den Medien. "Man tut ihr wahrscheinlich etwas Gutes, wenn man sie leben lässt", riet Jugendpsychiater Max Friedrich.

Man solle Kampusch die Möglichkeit einer Kompensation für das erlittene Leid geben. Ein Star zu sein, könne der 18-Jährigen allerdings keinen derartigen Ausgleich bieten. Auf diesem Weg würde sie nur zum Starlet werden und von den Medien fallen gelassen, sagte Friedrich.