Weihnachten 1956 auf der Wachtenegg bei Herisau: Ein Hofhund bellt, der Bauer schickt die Kinder auf die Wiese nachschauen; sie finden einen Toten im Schnee liegen; adrett im dreiteiligen Anzug und Mantel, nur der Hut ist ihm vom Kopf gefallen. Das Polizeifoto ging in die Literaturgeschichte ein.
23 Jahre in psychiatrischer Klinik
Es war der Schriftsteller Robert Walser, der knapp 50 Jahre vorher, nach der Veröffentlichung der drei Romane "Geschwister Tanner" (1907), "Der Gehülfe" (1908) und "Jakob von Gunten" (1909), noch leidlich berühmt gewesen war, den man aber mittlerweile fast völlig vergessen hatte.
Denn seit 23 Jahren hatte er nicht mehr geschrieben - seit er in der psychiatrischen Klinik Herisau war.
Gedenkspaziergang in Herisau
Der Schweizer Bundesrat Hans-Rudolf Merz, der in Herisau aufwuchs, kann sich noch an den stets elegant gekleideten, in sich gekehrten Spaziergänger erinnern. Er war deshalb der Stargast bei der weihnachtlichen Wanderung auf den Spuren des letzten Spaziergangs Walsers am 25. Dezember.
Traum vom Schauspielberuf
Robert Otto Walser wurde am 15. April 1878 als siebentes von acht Kindern in Biel geboren. Der Vater, ein Buchbinder, nahm seinen Zweitjüngsten mit 14 Jahren vom Progymnasium und steckte ihn in eine Banklehre.
Nach dem Lehrabschluss versuchte dieser erst einmal, in Stuttgart seinen Traum vom Schauspielerberuf zu verwirklichen. Man beschied ihm harsch, er könne nicht richtig sprechen. Also ging er zu Fuß - einer von vielen Gewaltmärschen - nach Zürich.
Dienerschule und Künstlerzirkel
Dort arbeitete er als Büroangestellter in wechselnden Stellungen. Daneben und dazwischen schrieb er Gedichte, Kurzprosa und Dramolette. 1898 druckte der "Bund" erstmals Gedichte von ihm, 1904 erschien "Fritz Kochers Aufsätze" im renommierten Insel Verlag. Im Jahr darauf zog Robert nach Berlin zum Bruder Karl, einem erfolgreichen Buchillustrator und Bühnenbildner.
Er absolvierte eine Dienerschule, die ihn später zum "Jakob von Gunten" inspirierte, und arbeitete kurz als Butler auf Schloss Dambrau. Daneben fand er Anschluss an Künstlerzirkel, fühlte sich aber nicht wohl.
Drei Romane und "Prosastückli"
Er zog sich zurück und veröffentlichte in kurzer Abfolge die drei Romane "Geschwister Tanner" (1906), "Der Gehülfe" (1908) und "Jakob von Gunten" (1909).
1913 kehrte Walser in die Schweiz zurück. Er bezog ein Zimmer im Bieler Hotel Blaues Kreuz und lebte von "Prosastückli" für Zeitungen im ganzen deutschsprachigen Raum.
Immer wieder Wohnortwechsel
Nach dem Krieg verkauften sich die Texte nicht mehr so gut. Walser zog 1921 nach Bern und wurde immer deprimierter. Er wechselte manchmal mehrmals jährlich die Mansarde, trank, litt unter Schlaflosigkeit und Angstattacken.
Geschrumpfte Schrift
Die ersten Mikrogramme entstanden: In winziger Bleistiftschrift notierte, hochartistische, aufgeräumte Plaudereien, die sich oft als oberflächliche Geschwätzigkeit entlarven, die Angst, Frustration und Einsamkeit nur unzulänglich übertönen kann. Nach einem gescheiterten Selbstmordversuch willigte Walser ein, sich in der Klinik Waldau behandeln zu lassen. Dort schrumpfte seine Schrift weiter.
Keine Worte mehr
1933 wurde er in seinen Heimatkanton Appenzell, in die Heilanstalt Herisau umgesiedelt. Obwohl er sich als unproblematischer Patient erwies, wurde er entmündigt. Darauf stellte er das Schreiben vollends ein.
Irene Widmer, sda
Links:
- Robert-Walser-Stiftung Zürich
- Robert Walser (Wikipedia)