Tod im Schnee

Vor 50 Jahren starb Robert Walser.
Am 25. Dezember 1956 stirbt Robert Walser im Alter von 78 Jahren auf einem Spaziergang. Das Foto des toten Schweizer Dichters im Schnee ist in die Literaturgeschichte eingegangen - als Sinnbild äußerster Zurückgezogenheit und Einsamkeit, als Sinnbild einer eigentümlichen Existenz.

Im Spannungsfeld von lauter Gegensätzen hat sich dieses "Poetenleben" bewegt: keckes Auftreten und totale Zurückgezogenheit, Erwerbszwang und Müßiggang, absonderliches Außenseitertum und überangepasste "Normalität" - bis sich Walser schließlich vollends zurückzieht.

Die letzten Jahre seines Lebens verbringt er in einer Nervenheilanstalt, er schreibt keine Zeile mehr. Seine Stimme verstummt, er wird vergessen. Erst Jahrzehnte später wird Walser wiederentdeckt. Seine Stimme ist jetzt lauter als zu Lebzeiten. Posthum ist er etabliert als eine bedeutende literarische Größe, Experten gilt er heute als "Klassiker" der Moderne.

"Mannigfaltig zerschnittenes Ich-Buch"
Drei Romane, ein paar Gedichte und vor allem mehr als 2.000 "Prosastückli" und kleine Texte für Zeitungen und Zeitschriften hat Walser hinterlassen. Sie alle bilden Kapitel desselben Romans und dürfen als Teile eines "mannigfaltig zerschnittenen Ich-Buchs bezeichnet werden", wie er selber sagt.

Ein besessener Spaziergänger
Walser betätigt sich vorzugsweise als Spaziergänger, ja, er ist ein besessener Spaziergänger, der von sich behauptet: "Ohne Spazieren wäre ich tot."

Ein Großteil seines Werks verdankt sich den Eindrücken, die er auf seinen Wanderschaften macht und die vor allem eines erkennen lassen: den Blick auf das nahe Liegende, Überschaubare und vom Einzelnen Erlebbare.

Die Naturpreisung steht im Vordergrund, geradezu süchtig ist er danach. Er preist das Vielfältige im Einfältigen, das Große im Kleinen, das Alles im Nichts. Auch die Dinge des Alltags und die Sorgen der unteren Schichten in ihrer trist-zerstörerischen Belanglosigkeit beschreibt er. "Ich kann nur in den unteren Regionen atmen", sagt er.

Keine leichte Kost
Aus den jeweiligen Anlässen gewinnt Walser seine Gedanken und Bilder, die sich zugleich nicht auf Privates reduzieren lassen. Sie sind genau bemessen, lebensnah und originell.

Genannten Gegensätzen ist nur mit leichtfüßiger Ironie und pointiertem Witz Herr zu werden. Alles Symbolische, jede Bedeutung und jeder Sinn werden bewusst zerstört.

Mit ihren verblüffenden Wendungen, ständig wechselnden Perspektiven und Übergängen erscheinen seine Texte wie improvisiert, sind aber hochartifizielle kleine "Stückli": Sie geben sich als, sind aber keine leichte Kost.

Humorvoll und beinahe unmerklich führt Walser den Leser in die düstersten Ecken der Existenz. Aus der Naturidylle wird eine irritierende Idylle, aus dem abendlichen Hintergrund ein Abgrund. Wie bei Franz Kafka handelt es sich um eine vertrackte Prosa, die sich leicht liest und schwer verdaut.

Bescheiden gewählte Sicherheit des Stoffes
Seltsam quer steht Walsers Werk zu einer Zeit, als die Expressionisten gerade ihre überlauten Töne anschlagen. Den Weg der Rebellion oder gar offenen Verachtung und Denunziation der Gesellschaft - und das macht ihn aktuell - hält er für beschämend.

Weil das Nahe - das Kleine - so ernst genommen wird, können die Dinge beim Namen genannt werden. Nur so wird Literatur fähig, Inhalte zu behandeln und mit sich fortzureißen, nur so verwandelt sich Literatur in eine revolutionäre Aussage.

"Groß und revolutionär ist nur das Kleine, das 'Mindere'. Hass gegen alle Literatur der Herren. Hinwendung zu den Knechten, zu den kleinen Angestellten", bemerken Deleuze/Guattari.

"Taktvoll den Verstand einbüßen"
Seinen literarischen Ruhm erlebt Walser nicht. Über den visionären Romantiker Hölderlin hat er lässig bemerkt, dass der es für angezeigt halte, "das heißt für taktvoll, im vierzigsten Lebensjahr seinen gesunden Menschenverstand einzubüßen".

Die Person Walser will hinter dem "Poeten" verschwinden, Gedanken und Bilder sollen sich selbst Geltung verschaffen.

Walsers Schreibimpuls (und später sein konsequentes Schweigen) mag - ähnlich wie bei Kafka - aus einer persönlichen Zwangslage motiviert sein, gerade ihr Außenseitertum lässt sie aber ins Zentrum treffen.

Deleuze/Guattari: "Wenn sich der Schreibende am Rande seiner Gesellschaft befindet, so setzt ihn das umso mehr in die Lage, eine mögliche andere Gemeinschaft auszudrücken, die Mittel für ein anderes Bewusstsein und eine andere Sensibilität zu schaffen."

Armin Sattler, ORF.at

Buchhinweise
Robert Walser: Sämtliche Werke. Suhrkamp, 5.773 Seiten, 152,20 Euro.

Gilles Deleuze, Felix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Suhrkamp, 144 Seiten, 8,80 Euro.

Jürg Amann: Robert Walser. Diogenes, 176 Seiten, 30,80 Euro.

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