An mehreren Stellen der neutestamentlichen Evangelien ist davon die Rede, dass Jesus "Brüder" hatte. Zum Beispiel heißt es bei Matthäus (13,55): "Ist er nicht des Zimmermanns Sohn? Heißt nicht seine Mutter Maria und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas?"
Leibliche Brüder für Jesus?
Die östliche Kirche verstand diese Brüder als leibliche Brüder. In der westlichen Kirche scheint der Gedanke an leibliche Brüder Jesu durch die fortbestehende Jungfräulichkeit seiner Mutter Maria ausgeschlossen zu sein.
Die Brücke zwischen zwei Ansichten
Aufgelöst wurde der Widerspruch zwischen biblischem Text und der unterstellten Jungfräulichkeit im Mittelalter durch die Konstruktion einer umfangreichen genealogischen Verbindung der Familie von Jesus. Im Mittelpunkt dieser Konstruktion stand die heilige Anna, die Mutter Marias.
Die drei Ehen der heiligen Anna
Den Kern dieser Überlegungen stellt die These des Trinubiums (dreifache Vermählung) der heiligen Anna dar, das heißt die Legende, Anna habe nach dem Tod ihres ersten Mannes Joachim noch zwei weitere Ehen geschlossen und weitere Nachkommen geboren.
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Heilige Sippe, Tafelbild aus dem Hausbuchmeisterkreis, um 1480, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg |
Faszination für das Thema im Mittelalter
Im Mittelalter entwickelte sich eine regelrechte Faszination für Verwandtschaftsverhältnisse in der Heiligen Familie. Aus wenigen Angaben in der Bibel las man eine komplexe Familiengeschichte heraus. Es entstand die Legende von der "Heiligen Sippe".
Überliefert wurde der Gedanke des Trinubiums das erste Mal im 9. Jahrhundert.
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Das Trinubium der hl. Anna in der Schädelschen Weltchronik, Nürnberg 1493. |
Fürst, Bürger und Heilige Sippe
Das Thema der Heiligen Sippe war vor allem im 15. und frühen 16. Jahrhundert, also in der aufkommenden Renaissance, sehr beliebt.
Fürstenhäuser, aber auch das Bürgertum interessierten sich zunehmend für Genealogien, also die Abstammung, etwaige verwandtschaftliche Beziehungen, die bis in die Antike zurückreichten - bekannt sind hier etwa die Arbeiten in der Ära von Kaiser Maximilian, z. B. die "Austrias" von Ricardo Bartolini.
In manchem Werk wurde der Anfang des Hauses Habsburg bis in den Trojanischen Krieg verlagert.
Die weiteren Ehen der Anna
Nach dem Tod Joachims, so will es die Legende zur Heiligen Sippe, soll Anna einen zweiten Mann, Kleophas, geheiratet haben.
Aus dieser Ehe ging eine Tochter hervor; sie erhielt den Namen Maria Kleophas. Sie heiratete Alphäus und gebar die späteren Apostel Jakobus den Jüngeren, Simeon Zelotes und Judas Thaddäus sowie Barnabas und Joseph den Gerechten.
Nach dem Tod des Kleophas heiratete die heilige Anna noch einmal. Salomas hieß der dritte Mann. Aus dieser Ehe ging ihre dritte Tochter Maria Salome hervor. Diese heiratete den Zebedäus und gebar die späteren Apostel Johannes den Evangelisten und Jakobus den Älteren.
26 Personen in vier Generationen
Wenn man die Verwandtschaft durch die Eltern der heiligen Anna einbezieht, dann verbindet die Heilige Sippe 26 Personen in vier Generationen.
Hochkonjunktur der Darstellungen
An der Wende des 15. zum 16. Jahrhundert blühten die Darstellungen der Heiligen Sippe. Erst unlängst tauchte im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg das lange verschollen geglaubte Tafelbild zur Heiligen Sippe (um 1480) aus dem Hausbuchmeister Kreis auf.
Die berühmteste Darstellung der Heiligen Sippe gelang wohl Lucas Cranach dem Älteren mit seinem Torgauer Altar.
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Lucas Cranach d. Ä., Torgauer Altar, 1509, Frankfurt, Städel-Museum. |
Weltliches im sakralen Raum
Die Umsetzung des Themas bei Cranach verdeutlicht die Moden der Zeit. Auf den Seitenflügeln des Alters tauchen weltliche Herrscher auf, etwa Kurfürst Friedrich der Weise und sein Bruder, Herzog Johann der Beständige. Beide lassen sich als Gatten der zwei Stiefschwestern Marias darstellen.
Die Herren in der Empore auf der Mitteltafel sind eigentlich die drei Gatten der heiligen Anna. Doch einer von ihnen trägt mehr als deutliche Züge des Habsburger-Kaisers Maximilian.
In das sakrale Thema wird also ein weltliches Bekenntnis integriert: Die Kurfürsten demonstrieren ihre Loyalität gegenüber dem deutschen Kaiser.
Cranach in Wien
Kurz nach dem Torgauer Altar entstand ein weiterer Sippenaltar Cranachs, der heute in der Galerie der Akademie der bildenden Künste in Wien zu sehen ist.
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Lukas Cranach d. Ä., Sippenaltar, Akademie der Bildenden Künste Wien, um 1510/12. |
Cranach hatte in der Zwischenzeit geheiratet und nutzte hier das sakrale Thema, um sich und seine Familie in der Gruppe um die heilige Anna selbst in Szene zu setzen. Der Maler ist auf dem linken Bildrand zu sehen, rechts posiert sogar der Schwiegervater neben den Heiligen.
Frauen im Zentrum
Dass die Frauen das Zentrum der Heiligen Sippe sind, belegt keine Umsetzung des Motivs besser als das Tafelbild von Michael Coxcie aus dem Jahr 1540, das in der Galerie des Stiftes Kremsmünster zu sehen ist. Coxcie, einer der berühmtesten flämischen Maler seiner Zeit, hatte seine Ausbildung in Rom genossen.
Monumentales ist angesagt, das Ensemble erinnert stark an Raffaels "Schule von Athen" (1509): Die heilige Anna thront in der Mitte. Ihre Töchter, die drei Marien, sind mit ihren Kindern beschäftigt. Den Männern bleibt in diesem berühmten Tafelbild, das vom Wiener Hof als Schenkung ins Stift Kremsmünster kam, nur noch die andächtige Betrachtung aus dem Hintergrund.
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Michael Coxcie, Heilige Sippe, Stift Kremsmünster. |
Gerald Heidegger, ORF.at
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