Die Rahmenhandlung hört sich nach einem der unzähligen Expeditionsromane der Marke "noch höher, noch gefährlicher, noch einsamer" an: Erzählt wird die tödlich endende Geschichte eines Brüderpaares, das sich von Irland aus auf den Weg ins östliche Tibet macht, um einen noch unbezwungen Berg, den Phur-Ri, zu besteigen.
Freie Rhythmen statt Prosa
Von einem gewöhnlichen Abenteuerroman ist "Der fliegende Berg" dennoch denkbar weit entfernt. Ransmayr betritt wie seine Protagonisten Neuland: Er verzichtet auf die übliche Prosa und legt seinen Roman gänzlich in strophisch gegliederten freien Rhythmen vor.
So fängt der Roman an - und so bleibt er:
"Ich starb
6.480 Meter über dem Meeresspiegel
am vierten Mai im Jahr des Pferdes.
Der Ort meines Todes
lag am Fluß einer eisgepanzerten Felsnadel,
in deren Windschatten ich die Nacht
überlebt hatte."
"Der Flattersatz ist frei"
Die Motivation zu diesem Stilmittel fand der 52-Jährige in zeitgenössischen Gedichten, in denen zunehmend auf die gebundene Rede verzichtet und an Stelle von Versen eben diese freien Rhythmen verwendet werden.
Ransmayr wollte mit dem Missverständnis aufräumen, dass es sich bei jedem "flatternden", in ungleich lange Zeilen und Strophen gegliederten Text um ein Gedicht handeln muss. Der "Flattersatz" oder der "fliegende Satz" sei frei und gehöre nicht allein den Dichtern, schreibt er im Vorwort zum Buch.
Im Interview mit der "Welt" liefert Ransmayr noch eine weitere Erklärung: Für Lesungen schreibe er sich seine Texte so auf, um den richtigen Rhythmus vor Augen zu haben. Dieses Service wolle er nun auch seinen Lesern zukommen lassen.
Einzigartiges Leseerlebnis
Auch wenn dieses "Service" auf den ersten Blick abschreckend wirkt: Der gebürtige Welser, der in Wien und Irland lebt, erleichtert den Einstieg in eine fremde Art des Lesens durch kurze Zeilen und Strophen. Es ist, als stolpere man unwillkürlich in die Poesie des Werkes.
Mit fortschreitender Dauer werden die Zeilen länger und die Strophen umfassender. Der sanfte Einstieg in einen ungewohnten Stil hilft dem Leser jedoch, auch bei steigender Komplexität dem Rhythmus folgen zu können.
Sehnsucht nach dem Unbekannten
Bereits im ersten Kapitel wird man mit dem Tod von Liam auf dem "fliegenden Berg", dem Phur-Ri, konfrontiert. Die Geschichte wird in Rückblenden aus der Sicht von Padraic, dem Jüngeren, dem Überlebenden erzählt.
Ransmayr schildert behutsam die Beziehung der beiden gänzlich unterschiedlichen Brüder zueinander, von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Er schreibt von der Sehnsucht nach dem Unbekannten, die auf über 6.000 m Seehöhe ein tragisches Ende fordert.
Nur einer überlebt die Strapazen und kann wieder in die Heimat zurückkehren - um sich dann, wie in einem ewigen Kreislauf, wieder auf den Weg zu machen.
Verwobene Erzählweise
Die Handlung wird auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt. Das Geschehen wechselt etwa direkt von den Hochtälern Khams im östlichen Tibet ins Irland der Jugend von Liam und Padraic, als sie mit ihrem Vater durch die Berge von Cork und Kerry zogen.
Besonders für Padraic waren diese "Manöver" eine Qual. Er stand immer im Schatten seines älteren Bruders. "Captain Daddy" - der Vater, der liebend gerne ein Mitglied der IRA gewesen wäre - versah die gemeinsamen Ausflüge mit militärischem Drill.
Ein unbekannter Berg
Ransmayr gibt den Vorbereitungen auf die Expedition viel Raum. Kartograf Liam ruft Padraic, der aus den Fußstapfen seines älteren Bruders herausgetreten ist und ein Leben auf hoher See führt, zu sich nach Horse Island.
Dort lebt Liam zwar hoch technisiert, aber sehr zurückgezogen. Nebenbei führt er eine karge Viehzucht. Ransmayr selbst bewohnt in Irland Teile des Anwesens eines Freundes, auch dort herrscht beschauliche Ruhe.
Liam jedenfalls glaubt auf einem im Internet entdeckten Foto einen bisher nicht kartografierten Berg im Transhimalaya entdeckt zu haben. Das Vorhaben einer Erstbesteigung lässt ihn nicht mehr los.
Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit mit Training an den Klippen von Horse Island, in der Padraic wieder in den Schatten Liams tritt, machen sich die beiden auf nach Tibet, wo der Jüngere dann doch seinen eigenen Weg und in der Nomadin Nyema die Liebe seines Lebens findet.
Extreme Gegensätze
Ransmayr arbeitet nicht nur in der Beschreibung der Brüder mit extremen Gegensätzen. Einen starken Kontrast zur Welt des irischen Brüderpaares bildet die Welt der tibetischen Nomaden, die in den Sommermonaten mit ihren Yak-Herden die Hochebenen Khams hinauf zu den Ausläufern des "fliegendes Berges" wandern.
Sie bewerten das Vorhaben der Fremden vom Meer, unbedingt den Gipfel besteigen zu wollen, als höchst gefährliche Herausforderung der Götter. Dämonen würden die Entweihung des Sitzes der Götter bestrafen.
Berge, die fliegen
Die Mythologie der Nomaden liefert den Titel des Buches. Sie glauben, dass die Berge nicht immer auf der Erde waren, sondern von den Göttern geschickt wurden, damit die Menschen und Tiere an ihren Flanken Schutz suchen können.
Eines Tages würden sich die Berge wieder erheben und lautlos davonfliegen. Die Nomaden Khams knüpfen deshalb Gebetsfahnen an die Füße der Riesen, um sie auf der Erde zu verankern.
Die sinnliche Beschreibung der "fliegenden Berge" lässt beim Lesen keinen Zweifel aufkommen, dass diese Ungetüme sich wirklich erheben könnten, um lautlos in der Ewigkeit zu verschwinden.
Der Welt entrückt
Der Phur-Ri ist dabei ein besonderer Fall. Er, so glauben die Nomaden, würde ständig davonfliegen und wieder erscheinen. Oft ist der Koloss tagelang nicht zu sehen, weil Nebelschleier und Wolkenbänke keinen Blick auf den Riesen zulassen - er ist der Welt entrückt.
Hymnische Kritiken
Zu erwarten wäre gewesen, dass bei
einem Text dieser Bauart ständig jene Alarmglocken schrillen, die vor lyrischer Betulichkeit, Ethno-Kitsch und seitenlanger Introspektion warnen. Das Gegenteil ist der Fall.
In ersten Rezensionen, die trotz strenger Vorgaben des Verlags bereits Tage vor dem Erscheinen von "Der fliegende Berg" erschienen sind, ist vom ganz großen Wurf Ransmayrs die Rede.
Die "Zeit" etwa spricht von einer "Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur". Selten habe man "die tödliche Schönheit über den Windfahnen fliegender Berge so suggestiv wie im epischen Flattersatz dieses Romans gesehen. Für eine extreme Welt findet Ransmayr eine so noch nicht gehörte Sprache, seinen Sprachgesang."
Bergtour mit Messner
Ähnlich die "Welt": "Sein Ton ist einzigartig, eigenständig und bei aller Kunstfertigkeit ursprünglich. (...) 'Der fliegende Berg' ist nicht nur formal, sondern auch inhaltlich der persönlichste Roman eines Autors, der für akribische Recherchen bekannt war."
Ransmayr wird mit den Worten zitiert: "Die Scheu, auch meine eigenen Erfahrungen und Empfindungen zu schildern, meinen Ekel, meine Höhenangst, habe ich verloren."
Das kann durchaus wörtlich verstanden werden: Ransmayr bestieg mit seinem Freund Reinhold Messner einen Berg im Gebiet des tibetischen Volkes der Kham. Dass Messners persönliches Brüderdrama das Buch beeinflusst hat, bestätigt der Autor weder, noch bestreitet er es.
Messner und Ransmayr jedenfalls kamen bei ihrer Tour auf genau jene Höhe, die auch die beiden Brüder in "Der fliegende Berg" erreichen.
Ransmayr auf dem Gipfel
Literarisch "bezwungen" wurde schließlich auch "Der fliegende Berg", mit dem der Autor nahtlos an vergangene Erfolge wie "Der Schrecken des Eises und der Finsternis", "Die letzte Welt" und "Morbus Kitahara" anschließen dürfte. Das lange Warten hat sich gelohnt: Ransmayr steht auf dem Gipfel.
Peter Falkner, ORF.at
Buchhinweis
Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg. S. Fischer 2006, 359 Seiten, 19,90 Euro.
Der Autor liest am 10. Oktober im Wiener Burgtheater aus "Der fliegende Berg". Im Anschluss an die Lesung besteht die Möglichkeit, Bücher signieren zu lassen.
Links:
- S. Fischer
- Christoph Ransmayr bei S. Fischer
- "Der fliegende Berg" bei S. Fischer
- Leseprobe
- Rezension in der "Zeit"
- Rezension in der "Welt"
- Burgtheater