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Der Wiener, der 2001 seinen Zivildienst am Leo-Baeck-Institut für deutsch-jüdische Geschichte in Manhattan leistete, nahm den 11. September 2001 wie viele New Yorker wahr: als dramatische Abweichung vom ohnehin schon chaotischen Alltag in der Millionenmetropole.
Gespenstisch und bedrückend
Die Fotos, die Winkler - heute ORF.at-Mitarbeiter - nach seiner Flucht aus einer gestoppten U-Bahn schoss, wirken auch fünf Jahre nach 9/11 noch beeindruckend und bedrückend.
Sie zeigen Manhattan als gespenstische, fast romantisch-schöne "Winterlandschaft" in den Stunden nach den Anschlägen, "zugeschneit" mit Staub, Asche und Bürodokumenten aus den eingestürzten Twin Towers.
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Ein ganz normaler Tagesanfang
"Ich wohnte in Brooklyn, relativ weit draußen. Mit der U-Bahn-Linie 4 fährt man etwa eine halbe Stunde nach Manhattan. Als ich unterwegs war, gab es wohl bereits Nachrichten auf CNN, aber auch die anderen Fahrgäste schienen noch nichts davon zu wissen", erzählt Winkler über den Tag, der für ihn ganz normal begann.
"Dann wurde durchgesagt, dass die Station Wall Street ausgelassen werden muss. Wir fuhren durch die Station durch und blieben dann stehen - nichts Ungewöhnliches für New Yorker Verhältnisse. Unangenehm wurde es erst, als man anfing, den Rauch zu riechen. Das dürfte wohl gewesen sein, als der erste Turm zusammengebrochen ist."
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"Man konnte kaum sehen"
Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, was tatsächlich passierte. "Unter den Passagieren sprach sich herum, dass ein Flugzeug im Battery Park abgestürzt sei. Ich ging davor einfach davon aus, es brenne in der U-Bahn."
Winklers U-Bahn setzte schließlich in die Station Wall Street zurück. "Diese U-Bahn-Stationen liegen relativ tief, und je weiter man nach oben kam, desto dicker wurde die Luft. Man konnte kaum sehen. Das ist so, wie wenn man ein Stockwerk im Dunkeln zurücklegen muss und nichts sieht."
Straße in Finsternis
"Im letzten Stockwerk hab' ich dann geschaut, dass ich die Luft anhalte und rauskomme. Aber alles war schwarz. Da gab es dann den Panikmoment: Du Idiot hast dich jetzt verlaufen und wirst draufgehen, weil du erstickst."
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"Ich hab' mich dann umgedreht, und das war wirklich ein Augenblick, der mir stark in Erinnerung geblieben ist: Ich habe einen der beleuchteten grünen Bälle gesehen, die in New York die U-Bahnen im Freien kennzeichnen. In dem Moment wurde mir klar, dass ich zwar auf der Straße bin, es aber finster ist, und man kann nicht atmen." Winklers erster Gedanke: "Das ist der Dritte Weltkrieg, und du bist tot."
Flucht in ein Wall-Street-Büro
Winkler flüchtete wie viele andere Passanten von der Straße in ein Bürogebäude in der Wall Street, nur wenige Blöcke von Ground Zero entfernt.
"Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits herumgesprochen, dass es eine Terrorattacke auf New York gab. Das muss gewesen sein, nachdem der zweite Turm zusammenbrach. Panik gab es keine. Die Leute waren froh, dass sie endlich wussten, was passiert war."
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In einem der Büros des Gebäudes begann Winkler zu fotografieren. "Durch die Fenster sah man, dass die Leute wieder atmen und recht problemlos herumgehen konnten. Auch erste Fotografen waren darunter."
"Notfallplan"
"In dem Büro selbst traf ich auf eine überraschende Szenerie. Ich wurde nicht hinausgeworfen, und es gab gerade eine Lagebesprechung: Die Leute machten einen 'Notfallplan', in den ich sofort eingebunden wurde, und wir versuchten hinauszukommen. Im Süden sah man bereits den blauen Himmel durchschimmern. Man konnte also wieder ins Freie."
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"Nicht ganz New York in Schutt und Asche"
"Draußen war klar: Nicht ganz New York lag in Schutt und Asche. Man hörte Polizeisirenen und Hubschrauber. Ich suchte ein Münztelefon, um in meinem Institut anzurufen. Davon gab es zwei Sorten: die, die schon voll waren mit Münzen, und die, vor denen lange Schlangen anstanden."
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Zu Fuß über die Brooklyn Bridge
Öffentliche Verkehrsmittel gab es zu diesem Zeitpunkt im südlichen Manhattan keine mehr. Winkler ging zu Fuß um das WTC-Gelände herum Richtung Brooklyn Bridge.
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"Dort strömten die Menschen von allen möglichen Richtungen zusammen. Man hörte die Leute schon reden. Teeren und federn war eher das Nettere, was manche den Attentätern wünschten. Hauptsächlich versuchten die Menschen aber zu realisieren, was passiert ist. Es war keine aufgebrachte Meute."
"New Yorker ist, wer in New York lebt"
"Es sind sehr bald sehr viele Flaggen draußen gehangen", erinnert sich Winkler an die ersten Tage nach den Attentaten. Ausschreitungen gegenüber Minderheiten nahm er nur vereinzelt in den Medien wahr. "Zum New Yorker Lokalpatriotismus gehört eben auch: New Yorker ist, wer in New York lebt. Dass das Fremde New York ausmacht, hat sich nicht geändert."
Gesprächsprotokoll: Michael Höck, ORF.at