Das Leben, eine Krankengeschichte

Vor dem Tod wird Bilanz gezogen: Roths "Jedermann" hinterlässt verbrannte Erde.
Philip Roth hat mit dem nun auf Deutsch erschienenen Roman "Jedermann" (Hanser) ein kompaktes (160 Seiten) Buch über die Vergänglichkeit des Menschen geschrieben, das an Intensität seinesgleichen sucht.

"Jedermann" hebt sich vom umfangreichen Gesamtwerk Roths ab. In einem Interview erzählte der Autor kürzlich, dass er vor Jahren von einem wohlmeinenden Freund kritisiert worden war: Seine ansonsten großartigen Bücher würden unter beständigem "Augenzwinkern" leiden.

"Jeder Satz ein Diamant"
"Jedermann" kommt ohne ironischen Gestus aus - und die Literaturkritik zeigt sich begeistert. Der "Independent" ließ sich zur Aussage hinreißen, jeder Satz glänze in seiner lapidaren Perfektion wie ein Diamant.

Die "Times" sieht durch das Buch George Lukacs' Diktum widerlegt, wonach es einem Schriftsteller unmöglich sei, mit seinem Werk ein ganzes Leben zu umfassen.

Schreiben wie ein alter Gott
Laut "profil" nimmt der Roman im Werk Roths eine Sonderstellung ein. Im "Spiegel" ist zu lesen: "Er schreibt wie ein junger Gott."

Nein, könnte man antworten. Er schreibt wie ein alter Gott, und genau das macht dieses Buch so wertvoll. Philip Roth wurde 1933 geboren wie sein namenloser Held. Insgesamt weist vieles darauf hin, dass der ewige Nobelpreisanwärter einmal mehr ein Alter Ego erschaffen hat.

Der undenkbare Tod
Sein Jedermann ist ein reicher, durchschnittlicher Amerikaner und hat am Ende drei Scheidungen hinter sich. Roth ist zwei Mal geschieden. Jedermann muss sich mehreren Herzoperationen unterziehen. Roth wurden bereits fünf Bypässe gelegt.

Beide entstammen einem jüdischen Hintergrund, sind aber überzeugte Atheisten. Beide haben Angst vor dem Tod. In einem lesenswerten Interview mit dem "Guardian" sagte Roth: „Ja, ich habe Angst davor. Es ist schrecklich. Es bricht mir das Herz. Es ist undenkbar. Es ist unglaublich. Es ist unmöglich."

Roth muss genau wie sein Held immer mehr seiner Wegbegleiter zur letzen Ruhestätte geleiten. "Das war so nicht ausgemacht", beschwert er sich beim Schicksal. Henry James komme ihm in den Sinn, der an seinem Totenbett gesagt habe: "Ah, da kommt sie, die große Sache" - "the big thing".

Verbrannte Erde
Roths neuer Roman beginnt nach dem "big thing", beim unspektakulären Begräbnis Jedermanns, das als Ausblick auf ein baldiges Vergessensein gelesen werden kann. Der Held hat verbrannte Erde hinterlassen, so viel ist von Beginn an klar.

Biografien als Krankengeschichten
Dem Vergessen geht die Erinnerung voran: Von der Beerdigung aus wird das Leben des Werbetexters nacherzählt - und zwar von Operation zu Operation, mit Rückblicken auf die Zeiten dazwischen. Den Anfang machte ein Leistenbruch in der Kindheit, am Schluss stehen sieben Herzoperationen in sieben Jahren an.

Menschliche Biografien würden immer mehr zu Krankengeschichten, erklärt Roth die Dramaturgie seines Romans. Die Lebensphilosophie des Jedermann ist bar jeder Transzendenz: Wir alle sind Körper, die irgendwann einmal sterben.

Auf der Flucht vor dem Unausweichlichen
Der Rest, abseits vom biologischen Leben und Ableben, ist Füllwerk, sind Strategien, um der "unausrottbaren" Angst vor dem Tod zu entgehen. Der brasilianische Philosoph Vilem Flusser hatte dazu einmal gesagt: "Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode."

Es ist diese Einsamkeit, die Roths namenlosen Helden im Angesicht des Todes von Jahr zu Jahr hilfloser werden lässt. Die Kommunikation kommt ihm abhanden und das schlimmste daran ist, dass er weiß: Er hat es sich selbst zuzuschreiben.

Bilanz einer Lebenszerstörung
Schuldgefühle treiben ihn an den Rand der Verzweiflung. Er hatte drei Ehen zerstört, zwei Familien, die Kindheit seiner Söhne und seiner Tochter und schließlich die lebenslange Freundschaft zu seinem großen Bruder Howie.

Besonders die Trennung von seiner zweiten Frau Phoebe bereut er bitter. Sie war ihm eine starke, liebevolle Stütze gewesen und er hatte sie gegen eine 26 Jahre Jüngere eingetauscht, die sich als "untauglich" erwies, als "weniger als ihr kleines Loch".

Erinnerungen an die schönen Zeiten
Die vielleicht berührendste Szene im Buch ist jene, wo der selbst von seinen Operationen schwer gezeichnete Jedermann am Krankenbett von Phoebe steht, die einen Schlaganfall erlitten hatte. Sie erinnern sich an die schönen Zeiten.

Versöhnung mit dem Tod
"Das Alter ist kein Kampf; es ist ein Massaker", lässt Roth einen seiner Protagonisten sagen. Am Ende schafft es die Hauptfigur dennoch, ihre Würde zurückzuerobern und in Ruhe zu sterben.

Roth entlässt den Leser mit dem Tod als Happy End - nicht weil Jedermann sein Leiden nun hinter sich hat, sondern weil er sich rechtzeitig mit dem Tod ausgesöhnt hatte.

Das Jedermann-Motiv
Der Titel "Jedermann" bezieht sich auf ein gleichnamiges Theaterstück aus dem 16. Jahrhundert. Auch Hugo von Hofmannsthals "Jedermann. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes", alljährlich bei den Salzburger Festspielen aufgeführt, knüpft an die historische Vorlage an.

Roth geht seine eigenen Wege, er unterfordert die Leser nicht mit plakativer Moral. Eine Wende am Ende als Rettung wäre unrealistisch - was bleibt, ist der Rückblick.

Melancholie mit Glücksmomenten
Roth verzichtet bei seinem Rückblick auf Übertreibungen, er legt ein ruhiges, melancholisches Buch vor, mit großen Momenten.

Die Grundstimmung gleitet niemals in Tristesse ab. Erinnerungen an die Vergangenheit sind auch Erinnerungen an die Jugend und an die Liebe, auch wenn nie verschwiegen wird, dass die glücklichen Zeiten am Ende längst vorbei sind.

Keine Männlichkeitsrituale
Das Altern als letztes großes Männlichkeitsritual darzustellen, wie zuletzt Martin Walser in seinem Buch "Angstblüte" (Rowohlt) - nichts liegt Roth ferner. Bei ihm darf man mit 70 Potenzprobleme haben, bei ihm darf ein Flirt mit einer knapp Dreißigjährigen scheitern, während Walser pseudointellektuelle, greise Übermänner mit jungen Frauen schlafen lässt.

Roths "Jedermann" ist sehr viel ehrlicher als Walsers "Angstblüte" und deshalb trotz des leiseren Erzähltons und der stilleren Dramatik der Story ungleich berührender. Die insistierende Ernsthaftigkeit der Erzählung zieht unweigerlich in ihren Bann.

Alles für den Nobelpreis?
Das Augenzwinkern fehlt tatsächlich im Roman - nicht aber in allen Rezensionen. So gibt es etwa eine Theorie, warum Roth gerade jetzt ein Buch über das Altern und den Tod vorlegt: Er wolle die Nobelpreisjury daran erinnern, dass ihr in seinem Fall nicht mehr viel Zeit bleibt.

Verdient hätte sich Roth den Nobelpreis längst, sowohl mit Klassikern wie "Portnoys Beschwerden" und der Zuckerman-Trilogie (samt Epilog) als auch mit viel beachteten jüngeren Werken wie "Amerikanisches Idyll", "Der menschliche Makel" und zuletzt "Verschwörung gegen Amerika". "Jedermann" schließt an diese Erfolge an. Vielleicht sieht das die Nobelpreisjury auch so.

Simon Hadler, ORF.at

Buchhinweis
Philip Roth: Jedermann. Hanser 2006, 160 Seiten, 18,40 Euro.

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