Der Sound der Unterwelt

In Russland boomt das Gangster-Chanson.
Wer heute das russische Fernsehen einschaltet oder einen Blick auf die russische Hitparade wirft, kommt am schnell produzierten Plastikpop - von der Casting-Show "Fabrika swijosd" (Starfabrik) bis zum Song-Contest-Teilnehmer Dima Bilan - kaum vorbei. Doch abseits der Mainstream-Medien floriert in Russland derzeit eine ganz andere Musikrichtung.

Shanson, Sowjet-Folk, Odessa Beat
Manche sagen euphemistisch Shanson dazu - vom französischen Chanson -, manche Gangster-Folk in Anspielung auf den amerikanischen Gangsta-Rap. Stars wie Willi Tokarew und Alexander Rosenbaum singen darin über Diebe und Polizisten, über Prostituierte und verdeckte Ermittler, über Gefängnisleben.

"In Europa werden wir meistens als 'Sowjet-Folk' oder 'Ska-Gangsta-Folk' beworben", sagte Slawa Schaligin, Sänger der Band La Minor, der "Moscow Times".

Ein anderer neu erfundener Genrename ist "Odessa Beat" als Referenz an den Schwarzmeer-Schmelztiegel, der Anfang der 20er Jahre als Hauptstadt des Chansons galt - nicht zuletzt wegen seiner aktiven Unterwelt.

Lange Tradition
Das Blatnjak-Genre, wie die Lieder auch genannt werden, hat eine lange Tradition. Schon im Russland vor der Revolution sangen inhaftierte Zarengegner Gefängnislieder. Später wurde subversive Kriminalfolklore daraus, und unter Stalin machten sich die Texte über die Unterdrückung und den Alltag im Sowjetsystem lustig.

Propaganda?
Politiker haben mit dem Shanson oft wenig Freude. Als in Russlands Gefängnissen ein Chanson-Wettbewerb ausgerufen wurde, sprach der damalige Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow laut einem "New York Times"-Artikel etwa von "Propaganda für die kriminelle Subkultur".

Zweifelhafte Ansichten
Ganz zu Unrecht kommt die Kritik allerdings nicht. Michail Krug, der als Shanson-König galt, bis er 2002 ermordet wurde, wirbelte mit homophoben Aussagen Staub auf.

Und auch manche politischen Verstrickungen sorgen für Unmut. Der St. Petersburger Sänger Alexander Rosenbaum ist Parlamentsabgeordneter für die konservative Putin-Partei Einiges Russland. Und die Band Lesopowal spielte jüngst sogar bei einer Geburtstagsparty für den Ultranationalisten Wladimir Schirinowski.

Gulag-Songs
Lesopowal hat hauptsächlich ein Thema: den Gulag, das berüchtigte sowjetische Zwangsarbeitslager. In den Liedern der Band geht es um die Zugsfahrt ins Arbeitslager, den brutalen Alltag im Arbeitslager und Erinnerungen ans Arbeitslager.

Kaum in den Medien
In den großen Fernseh- und Radiostationen ist für die Gangster-Songs höchstens im Nachtprogramm Platz. Mundpropaganda und kleinere Radiosender haben dem Genre dennoch zu großer Popularität verholfen, nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Die Zielgruppe ist groß: Abgebrühte Teenies erfreuen sich an den "authentischen" Texten "direkt von der Straße", nostalgische Pensionisten fühlen sich in die gute alte Sowjetzeit zurückversetzt.

"Wie Porno"
Michail Medwedowski vom Shanson-Sender Radio Petrograd sagte in der "New York Times", den Slogan eines seiner Moderatoren finde er besonders treffend: "Das russische Shanson ist wie ein Pornomagazin: Jeder liest es, jeder hört es, aber alle haben Angst, es zuzugeben."

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