Der persönliche Literaturkoffer

Eine Hand voll Empfehlungen für die Sommerlektüre.
Wer seinen Sommerurlaub mit Büchern verbringen will, kann heuer aus dem Vollen schöpfen. Ob Unterhaltung oder Geistesnahrung: Die 2006 bisher erschienen Bücher (und einige, die ab Juli aufliegen) lohnen es, den eigenen, privat ausgewählten "Literaturkoffer" mitzuschleppen.

Der Mann aus "Fear and Loathing ..."
Ein vollkommen irres Leben fasste der Journalist Hunter S. Thompson anekdotenreich in seinen nun auf Deutsch erschienenen, 510 Seiten starken Memoiren zusammen. Vor einem Jahr hatte sich der Erfinder des Gonzo-Journalismus (Reportagen, in denen sich der Autor selbst eine Rolle zugesteht) umgebracht.

Man kennt Thompson vor allem in der Gestalt Johnny Depps in der Verfilmung seines semi-autobiografischen Romans "Fear and Loathing in Las Vegas". Die Memoiren strotzen wie dieser Film vor Drogen, Frauen, Schusswaffen und Motorrädern. Thompson schrieb über den Beginn seiner Karriere im Pornogeschäft, über die Kandidatur für den Sheriff-Posten in Aspen, sein Schriftstellertum und sein Verständnis von Journalismus. Zahlreiche skurrile Details runden das Buch ab. So wurde Thompson einmal beschuldigt, Jack Nicholson töten zu wollen.

Die Memoiren werden übrigens noch heuer verfilmt - wieder mit Johnny Depp in der Hauptrolle.

Hunter S. Thompson: Königreich der Angst. Heyne Taschenbuch, 510 Seiten, 10,30 Euro.

Die Romane zum deutschen "Türkenkrieg"
Wer im Urlaub mit seinem Wissen über den jüngsten Skandal des deutschen Literaturbetriebs glänzen will, sollte Feridun Zaimoglus Roman "Leyla" lesen. Erstens handelt es sich dabei laut einhelliger Meinung der Kritiker um eine spannende, stringent und pointenreich erzählte Familiengeschichte im deutsch-türkischen Umfeld - es ist der Begleitroman zur aktuellen Migrationsdebatte.

Und zweitens steht der Vorwurf im Raum, dass der Roman an zahlreichen Stellen abgeschrieben ist - oder sind es doch nur Ähnlichkeiten? Gibt es eine gemeinsame Entstehungsgeschichte der beiden Bücher, wie Zaimoglu andeutet? Deshalb sollte man auch gleich den ganz anders geschriebenen, poetischen, atmosphärisch dichten und angeblich in Details erstaunlich ähnlichen Roman "Das Leben ist eine Karawanserei" von Emine Sevgi Özdamar lesen und selbst entscheiden: Ist Zaimoglus Buch ein Plagiat oder nicht? Deutsche Medien sprechen bereits vom "Türkenkrieg".

In seiner aktuellen Ausgabe fasst der "Spiegel" den Streit zusammen.

Feridun Zaimoglu: Leyla. Kiepenheuer & Witsch, 528 Seiten, 23,60 Euro.

Emine Sevgi Özdamar, Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus. Kiepenheuer & Witsch, 380 Seiten, 10,20 Euro.

Murakamis altes Neues
Als fast schon klassische Sommerlektüre können Bücher von Haruki Murakami gelten. Wer dessen vor 20 Jahren verfassten Roman "Hard Boiled Wonderland" bisher noch nicht gelesen hat: DuMont legte das Buch jetzt neu auf, es gilt als Herzstück im Werk des japanischen Kultautors. Die düstere Atmosphäre einer futuristischen Anti-Utopie dominiert die Story, in der sich wie immer ein cooler Held durchsetzen muss: eine Mischung aus Science-Fiction und klugem Entwicklungsroman.

Haruki Murakami: Hard Boiled Wonderland und das Ende der Welt. DuMont, 503 Seiten, 25,60 Euro.

Denis Johnson: "Jesus' Sohn"
Denis Johnsons Erzählband "Jesus' Sohn", 1992 in den USA erschienen, berichtet von Verwirrung, Leiden und Heilung des jungen, drogensüchtigen "Fuckhead" und hat den Autor zur lebenden Legende gemacht. Rowohlt hat das Buch nun neu aufgelegt, in den Feuilletons folgten hymnische Kritiken als Dank. Die "Süddeutsche Zeitung" fühlt sich an Beat-Poeten wie William S. Burroughs erinnert und lobt den psychodelischen Ton der Geschichten. In der "Zeit" gibt sich Iris Radisch begeistert über das "Understatement" und die "Ungezwungenheit" der Geschichten.

Denis Johnson: Jesus' Sohn. Rowohlt, 175 Seiten, 15,40 Euro.

Frederic Beigbeder: "Der romantische Egoist"
Frederic Beigbeder gilt seit seinem ersten Roman "39,90" als Provokateur der französichen Literaturszene. Sein jüngsten Buch "Der romantische Egoist" präsentiert sich als Tagebuch seines Alter Egos Oscar Dufresne. Der Text schildert teils aphorismenhaft die Gedanken des in einer verfrühten Midlife-Krise steckenden 34-jährigen Oscar.

Hin- und hergerissen ist der Anti-Held zwischen Bohemeleben mit Partys, Sex und Drogen und der melancholischen Sehnsucht nach Geborgenheit. Zu deftig, fast schon sexistisch, lautete das Urteil einiger Kritiker. Ein Aufreger also und als Großstadtroman eine kurzweilige Sommerlektüre auch für daheim Gebliebene.

Frederic Beigbeder: Der romantische Egoist. Ullstein, 284 Seiten, 19,95 Euro.

Die "Poetik der Runtergerocktheit"
Das Genre Popliteratur hat im ersten Halbjahr 2006 noch einmal ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben: Moritz von Uslars "Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005" (Kiepenheuer und Witsch) wurde gefeiert, in der deutschen "taz" etwa als geniale "Poetik der Runtergerocktheit", als "Befreiungsschlag dieses Bücherfrühlings".

Auch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ("FAZ") war begeistert - für sie ist das Buch allerdings explizit "kein Poproman". Eine der Grundfragen des Romans ist jedenfalls die nach der Möglichkeit einer Coolness nach 30. Die Story selbst ist zweitrangig, es geht um eine unglückliche Liebe und das vertrackte Leben eines erfolgreichen Jungjournalisten. Es sind die kleinen Pointen (die "FAZ" nennt sie "Aphorismen, die wie Faustschläge treffen"), in denen der Autor das Lebensgefühl seines Hauptprotagonisten vermittelt.

Moritz von Uslar: Waldstein oder Der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Kiepenheuer und Witsch, 191 Seiten, 18,40 Euro.

John Irving: "Bis ich dich finde"
Wer sie noch nicht gelesen hat: Anfang des Jahres legten Salman Rushdie und John Irving zwei umstrittene Bestseller vor. Irvings bisher umfangreichster Roman "Bis ich dich finde" (1.142 Seiten) liest sich flüssig und ist amüsant - trotz aller berechtigten Kritik an der vor sich hinmäandernden Handlung. Ein typisch Irvingsches Skurrilitätenkabinett, inklusive der Reise eines Buben durch europäische Tattoo-Studios, mit vielen Anekdoten: ideal für den Strand - mehr dazu in 1.142 Seiten Freakshow.

John Irving: Bis ich dich finde. Diogenes, 1.142 Seiten, 23,60 Euro.

Salman Rushdie: "Shalimar der Narr"
Rushdies "Shalimar der Narr" kann mit 544 Seiten als Urlaubsschinken mithalten. Quer über mehrere Kontinente und durch verschiedene Generationen führt Rushdie die Handlungsstränge des Romans zusammen: die turbulente Lebensgeschichte eines ehemaligen Geheimdienstlers, etwa während des Zweiten Weltkriegs in Europa; die Jugend seiner Tochter India als verwöhntes Mädchen in Los Angeles und die Wandlung des jungen, romantischen Shalimar zum Terroristen.

Am Ende entpuppen sich in einem überraschenden Showdown die politischen Verwicklungen rund um Terror und Krieg als Kulisse, eine persönliche Familientragödie tritt in den Vordergrund. Die deutschsprachigen Kritiken fielen durchwachsen aus, die englischen großteils begeistert. Die "LA Times" hält es für Rushdies "bestes Buch seit den 'Satanischen Versen'". Der "Boston Globe" beschrieb den Roman als "mutig, ergreifend, überwältigend" - mehr dazu in Rushdies Kaschmir-Parabel.

Salman Rushdie: Shalimar der Narr. Rowohlt, 544 Seiten, 23,60 Euro.

Der Neue von Martin Walser
Martin Walser gilt als einer der umstrittensten Autoren des deutschen Sprachraums. Ab 21. Juli kann man sich davon überzeugen, ob er wieder irgendjemanden tödlich beleidigt wie jüngst den "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki. Der Rowohlt Verlag kündigt Walsers neuen Roman "Angstblüte" als Geschichte von "zwei Täuschungen, vom Aufhörenmüssen und vom Geld - von Wahn, Scheinheiligkeit, Freundschaft, Liebe" an.

Ein Anlageberater will einem angeblich im Sterben liegenden Freund mit einer Unterschrift helfen. Plötzlich ist dieser wieder gesund. Dann soll er eine "Othello"-Inszenierung finanzieren. Er lässt sich von Schönheit täuschen. Irgendwie hängt alles zusammen - aber handelt es sich um Betrug?

Martin Walser: Angstblüte. Rowohlt, Reinbek, 224 Seiten, 20,50 Euro, ab 21. Juli.

Streeruwitz: "Enfernung"
Eine Woche später, am 28. Juli, erscheint bei S. Fischer Marlene Streeruwitz' neuer Roman "Entfernung". Der angekündigte Inhalt: Die Kulturmanagerin Selma macht ein letztes Projekt und geht nach London - in Wien lässt sie Scherben zurück und ist ohne Heim, ohne Arbeit - ihre Lebensentwürfe sind gescheitert.

Doch plötzlich steht sie auf und findet sich in einer geänderten Welt wieder. Ob die sprachgewaltige Erzählerin nach "morire in levitate" und "Jessica, 30" den hohen Erwartungen gerecht wird, wird sich zeigen.

Marlene Streeruwitz: Enfernung. S. Fischer, 480 Seiten, ca. 20 Euro, ab 28. Juli.

Weitere Empfehlungen
Wer noch weiterschmökern möchte, sei auf die ORF-Bestenliste verwiesen. Zahlreiche Tipps finden sich in den Rankings des letzten halben Jahres:
Juni
Mai
April
März
Februar
Jänner

Mehr Buchrezensionen in oe1.ORF.at

Ebenfalls empfehlenswert ist die täglich aktualisierte Feuilleton-Website Perlentaucher. Hier werden die Rezensionen der deutschen Qualitätszeitungen und einiger deutscher und internationaler Wochenzeitschriften übersichtlich zusammengefasst, etwa im Bücherbrief der Saison.